Er schleicht sich von hinten an. In der einen Hand eine silberne Wehrmachtslaterne, auf deren Boden kaum sichtbar der Reichsadler und das Hakenkreuz eingestanzt sind. An der anderen Hand sein siebenjähriger Sohn. Ein unverdächtiges Duo.
Die Sonne scheint an diesem 25. August im Jahr 1972, der Gesangsverein singt, der Bürgermeister schwingt eine Rede. Und Franz Samuel, damals 40 Jahre alt, ist auf brenzliger Mission.
An diesem Spätnachmittag tragen Fackelläufer das olympische Feuer durch das bayrische Dorf Ebenhausen, am Folgetag werden die Olympischen Spiele in München eröffnet. Samuel nutzt einen kurzen Moment der Unruhe, zückt eine lange, dünne Kerze und stibitzt eine Flamme des olympischen Feuers aus dem Pylon. Er entzündet damit in der Laterne die präparierte Kerze – aus einer Illustrierten schnitt er die olympischen Ringe aus und klebte sie auf – und wieselt zufrieden nach Hause.
Heute, 44 Jahre später, brennt das olympische Feuer noch immer. Nicht einmal liess es Franz Samuel (84) ausgehen. «Ursprünglich wollte ich es nur während der Münchner Spiele brennen lassen», sagt er, «aber ich brachte es bis heute nicht übers Herz, die Flamme zu löschen.» Seine Beziehung zu Kerzen habe er als Ministrant im Dritten Reich aufgebaut, «so wurde ich zum Liebhaber der Flammen».
An jenem Abend im August 1972 stellte Samuel die Kerze auf den Fernseher und guckte mit seiner Frau Inge (74) und den beiden Kindern die Eröffnungsfeier. «Unser Feuer flackerte bei uns daheim schon, bevor der Fackelläufer Günter Zahn jenes im Olympiastadion entzündete. Das machte mich natürlich schon stolz.»
Die Flurecke musste er schon drei Mal neu weisseln
Heute züngelt die Flamme in der Flurecke gleich neben der Eingangstür in einer Kristallvase, gefüllt mit Ewig-Licht-Öl. Das holt Samuel jeweils im nahen München, der Fünf-Liter-Kanister à 27 Euro. Einer reicht für zehn Wochen. «Ich kriege mittlerweile zehn Prozent Rabatt, weil, naja, weil ich wohl ein guter Kunde bin.»
Ein Küchensieb deckt die Vase ab, damit keine Nachtfalter, Mücken oder Motten zur Flamme gelangen und sie mit einem Flügelschlag löschen. Drei Mal mussten die Samuels die Flurecke schon neu weisseln, weil sie des Russes wegen so schwarz war. «Und es ist auch bereits das dritte Küchensieb, die anderen haben sich zersetzt», sagt Samuel lachend und achtet unauffällig, aber bestimmt darauf, dass man der Vase nicht zu nahe kommt.
Sie steht auf einer Art Altar, daneben ein Fackelläufer aus Porzellan, das Münchner Olympiamaskottchen Waldi, ein bunter Dackel, davor ein Werbeplakat der Olympischen Spiele. Es sind jene Spiele, die vor allem wegen der Geiselnahme von israelischen Athleten durch palästinensische Extremisten mit 17 Toten in Erinnerung bleiben. «Wir haben die ganze Nacht am Radio gehorcht und mitgezittert, das war schrecklich», erinnert sich Inge Samuel.
Ein Ewig-Licht-Docht brennt elf Tage, dann muss ihn Samuel auswechseln. Einmal, 1988, reiste das Paar für fünf Wochen nach Australien an die Hochzeit ihres Sohnes. Davor experimentierte Samuel tagelang rum und verknüpfte Dochte in verschiedenen Verfahren zu einem einzigen, langen. «Erst als ich sicher war, dass das Abbrennen reibungslos klappt, war ich bereit für die Reise.» Sein Docht brannte sechs Wochen, überwacht von der Mutter, die damals zum Haus schaute.
«Da lass ich keinen ran»
Das Licht im Flur ist nie an, schliesslich soll das feine Licht zur Geltung kommen. Für festliche Anlässe zapft Samuel einen Funken ab, wenn ihm danach ist, auch mal für Kerzenlicht zum Frühstück oder zur Teezeit. «Das mache nur ich, da lass ich keinen ran. Man muss wissen, wie man diese Kerze zu bedienen hat.» Und für den Fall, dass einer böswillig sein olympisches Feuer auslöschen will, oder wie Samuel sagt, «ein Attentat auf die Kerze plant», hat er vorgesorgt. Im Garten brennt auf einem von Rosen und Reben eingerahmten Altar eine Reservekerze, ein Ableger des olympischen Feuers.
Spätestens dort wird klar: Samuel pflegt das Stibitzen fast so wie seine Kerzenliebe. Um den Altar stapeln sich Steinstücke aus Kirchenmauern. Die meisten beschaffte sich der Maurersohn bei Umbauten und Abrissen von Kirchen – dafür fuhr er auch schon spätabends mit dem Handwägelchen vor. Und der Efeu, der im wilden Garten wuchert, hat seine Wurzeln im Wallfahrtsort Lourdes. «Ich schlich in der Nacht zur Grotte und zwackte ein, zwei Zweige ab und pflanzte sie hier ein.»
Und wenn man denkt, er könne nicht noch mehr aus seinem museal anmutenden Zuhause zaubern, kommt er mit einem schweren Stück rotem Ayers Rock, dem heiligen Berg der australischen Aborigines, in die Küche. Der Stein sei am Fusse des Bergs gelegen, da habe er ihn halt in den Rucksack gepackt.