Supermärkte schliessen 30 Minuten vor Anpfiff, sogar Flugzeuge bleiben am Boden: «Die Schweizer Armee könnte das Land in zwei Minuten einnehmen. Keiner würde es mitkriegen», sagte Martin Curi, Fussball-Forscher in Rio, während der WM 2014. In Brasilien steht das Land still, wenn die Seleção an einem grossen Turnier spielt. Normalerweise.
Blick.ch wollte diese spezielle Stimmung dort erleben, wo das Feuer für Futebol am heissesten brennt: in einer Favela. Gold an Olympia ist ein nationales Projekt: Alle anderen Turniere haben die Brasilianer schon mindestens ein Mal gewonnen, nur dieses nicht. Darum die Erwartung: Menschentrauben vor den Fernsehern, leergefegte Gassen. Und eine einzige Party nach jedem «Gooooooooool»!
Die Realität in der Comunidade Vidigal sieht am Mittwoch-Nachmittag anders aus: Während Neymar und Co. die Honduraner im Olympia-Halbfinale mit 6:0 verprügeln und in den Final einziehen, geht das Leben weiter, als liefe statt Fussball ein Halma-Turnier.
Der Match läuft zwar auf jedem Fernseher, in jeder Bar, jedem Supermarkt, jeder Autogarage steht ein Gerät. Die Fangesänge aus dem Maracanã und der Moderator – der Mann holt offenbar nie Luft – sind überall Hintergrundrauschen. Nur schaut fast keiner hin!
Erste Szene: Beim Zmittag – 5.50 Franken kostet das reichhaltige Menü mit Bohnen, Salat, Reis und Poulet – läuft der Match im Hintergrund. Im Restaurant sind zehn Personen. Und nur eine schaut auf den Screen! Bei jedem Tor schreit einer ein paar Häuser weiter wild rum. Wers im Restaurant mitkriegt, zuckt mit den Schultern.
Zweite Szene: Im Coiffeur-Laden, ein paar Meter weiter auf der belebten Strasse, schaut Guilherme Nunes den Match. Er erklärt: «Der 1:7-Schock gegen Deutschland im WM-Halbfinal sitzt immer noch tief. Wir haben uns noch nicht mit unserer Nati versöhnt.» Zwei blamable Vorstellungen an Copa America-Turnieren, dem Pendant zur EM, haben seitdem daran nichts ändern können. Und nach sechs WM-Quali-Spielen wäre Brasilien Stand jetzt nicht Mal für Russland 2018 qualifiziert.
Am Samstagabend soll sich die abgekühlte Liebe zwischen Seleção und Volk neu aufflammen: Gegner im Finale im Maracanã ist Deutschland. «Das ganze Land ist heiss auf die Revanche. Wir wollen mindestens ein 5:0!», sagt Nunes. Er ist sich sicher: «Das wird auch in der Favela ein Strassenfeger sein.»