Fünffacher Weltmeister, vierfacher Gesamtweltcup-Sieger, dazu Bronze und Silber bei Olympischen Spielen. Nur Olympia-Gold fehlt im sonst lückenlosen Palmarès von Nino Schurter (30). Unter anderem, weil ihn vor vier Jahren in London der Tscheche Jaroslav Kulhavy auf der letzten halben Runde noch abfangen konnte. «Damals wollte ich das Rennen zu sehr kontrollieren und habe darauf zu viel Energie verschwendet.»
Kontrolle – das ist ein Schlüsselwort im Gold-Plan des Bündners. Vor zwei Jahren liess er sich auf Anraten seines Ernährungsberaters Blut entnehmen und auf die Unverträglichkeit auf über 300 Lebensmittel testen. Seither verzichtet er fast gänzlich auf Gluten, Laktose und Eier. «Schwer fällt mir das nicht, weil es gute Alternativen gibt. Ich esse nun viel abwechslungsreicher und gesünder. Meine Verdauuung hat sich dadurch verbessert und mein Immunsystem ist resistenter geworden.»
Zwar hat Schurter durch den Verzicht etwas abgenommen und bringt bei einer Grösse von 1,73 Metern 68 Kilogramm auf die Waage. Doch drei Tage vor dem Olympia-Rennen beginnt für ihn das grosse Fressen, im Fachjargon Carboloading genannt. Auf dem Speiseplan stehen stark kohlenhydrathaltige Lebensmittel wie Reis, Kartoffeln und Quinoa, senfkorngrosse Samen. Wichtigstes Charakteristikum: Quinoa hat zwar eine getreideähnliche Zusammensetzung, ist aber glutenfrei.
Zubereitet wird das Frühstück von Nationalcoach Bruno Diethelm. Schurter nimmt Müesli aus Hafer, Amaranth, Quinoa, Früchten, Nüssen und Sojamilch im Appartment zu sich. «So können wir uns das Hin und Her zwischen Essenszelt und Village sparen.» Ziel der extremen Ernährung ist das Auffüllen des Glykogenspeichers in den Muskeln. Glykogen ist Energie und elementar für extreme Ausdauerleistungen.
Bei einem Mountainbike-Rennen über zwei Stunden verbrennt der Körper bis zu 4000 Kalorien. Das entspricht zehn Portionen Spaghetti. Kalorien zählt Schurter zwar nicht, aber den Prozess des Carboloadings hat er in den letzten vier Jahren auf seine Bedürfnisse abgestimmt. «Natürlich kann man zu viel essen und sich danach überessen fühlen. Erfahrungen sind hier am wichtigsten.» Dreieinhalb Stunden vor dem Rennen isst er zum letzten Mal – eine grosse Portion weissen Reis.
Im letzten Herbst gewann Schurter den Testevent auf der Olympia-Strecke, obwohl er ohne grosse Ambitionen angetreten war. «Das gibt mir ein gutes Gefühl, weil ich weiss, was mich erwartet.» Obwohl die Schweizer, anders als die Franzosen um Gold-Rivale Julien Absalon (36) die Strecke nicht nachgebaut haben, überlässt Schurter auch hier nichts dem Zufall. «Ich trainierte auf möglichst gleicher Unterlage, machte Sprint-Intervalle in der gleichen Länge und fuhr dieselben Steigungen.»
Nicht kontrollieren kann Schurter den Faktor Zufall. In seinem Sport ist die unberechenbarste Komponente ein Defekt. «Damit muss man leben. Aber einem Defekt geht meistens eine Fehlentscheidung bezüglich Material voraus.» Um das Risiko zu senken, greift er auf ein stabilieres Bike zurück, das dafür etwas schwerer ist. Erstmals seit vier Jahren hat er sein wichtigstes Arbeitgerät gewechselt. Und auch hier, wie könnte es anders sein, rein gar nichts dem Zufall überlassen.
In Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Sport absolvierte Schurter in Magglingen Rolltests. Stundenlang und akribisch überwacht von Geräten testete er verschiedene Bereifungen und Räder. «Die Rolleigenschaft wird sehr wichtig sein», sagt er. Erwartet wird ein schnelles und taktisches Rennen auf einer technisch wenig anspruchsvollen Strecke. «Eine zweite silberne oder bronzene brauche ich nicht. Ich will Gold», sagt Schurter.
«Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht. Aber es gibt Dinge, die du nicht kontrollieren kannst.» Kontrolle – da ist es wieder, dieses Wort, das die letzten vier Jahre seiner Karriere charakterisiert. Holt Schurter heute Gold, ist er nach den Turnern Georges Miez, Eugen Mack, Herman Hänggi und Josef Stalder sowie der Reiterin Christine Stückelberger erst der dritte Schweizer, der bei Sommerspielen einen kompletten Medaillensatz gewonnen hat.