Nach dem Match ist er in aller Munde
Gehörloser Schiri macht von sich reden

Der gehörlose Fussball-Schiri Tuncay Niederberger muss sich keine dummen Sprüche anhören. Er hört sie schlicht nicht.
Publiziert: 04.11.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 21:35 Uhr
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Niederberger führt die beiden Teams aufs Feld.
Foto: Nick Soland
Max Kern (Text) und Nick Soland (Fotos)

Der Trainer des Drittligisten SV Rümlang staunt schon vor dem Spiel in der Kabine. Fabio Digenti (43), 2003 mit GC Meister, erzählt: «Wir hatten eine super Sitzung. Der Schiri verschafft sich, ohne zu reden, ­Autorität. Und er macht Spässe. Als ich ihm sagte, dass einer meiner Spieler kurzfristig abgesagt habe, formte er mit seinen Händen zwei weibliche Brüste und lachte.» Jeder verstand, was der Schiri ohne Worte sagen wollte: Der liegt wohl bei seiner Freundin.

Niederberger hiess früher Tuncay Islak, nahm bei der Heirat den Namen seiner Schweizer Frau an. Seit 2006 lebt er mit seiner Familie in der Schweiz, seit 2011 leitet er als Vereinsmitglied des FC Weesen Spiele. Als Gehörloser.

«Ostschweizer Schiedsrichter des Jahres»

Schon 2012 wird Niederberger als «Ostschweizer Schiedsrichter des Jahres» ausgezeichnet. Den Preis übergibt TV-­Legende Beni Thurnheer.

Letzten Sonntag ist für Niederberger Alltag in der Fussball-Provinz. In Glattfelden ZH.

Beim Einlaufen kommt der Ref kurz am Spielfeldrand vorbei, zeigt auf die Tore. Und zeichnet BLICK eine Schlangenlinie in den Block. Auch beim Goalie-Trainer des FC Glattfelden beklagt er sich gestenreich über die krummen ­Linien.

Im Anstosskreis. Für Ball- und Platzwahl benutzen auch sprechende Schiris die gleichen Gesten wie der gehörlose Ref. 12.45 Uhr, Anpfiff. ­Anders als in der 2. Liga hat der Unparteiische keine Assistenten zur Seite. Er muss die Offsides selber erkennen. Bald pfeift Niederberger, zeichnet mit der Hand eine ­Linie. Abseits.

Entscheidet ohne Diskussion

Wenig später kommts zu einer strittigen Szene. Ein Zweikampf zwischen Rümlangs Goalie und einem Glattfelder Feldspieler im Strafraum.

Penalty? Nein, findet der Ref. «Hey, Schiri!», ruft einer. «Der hört nichts, der kann nichts dafür», sagt ein Glattfelder.

Niederberger lässt viel laufen. Deutet später mit zwei ­Händen unmiss­verständlich ein Hands an. Oder formt mit beiden Händen einen Kreis. Heisst: Das Runde gespielt.

Auf der Bank wirds lauter. Zwei Assistenztrainer sind im Wortgefecht. Niederbergers Augen («Ich bin ein sehr visueller Mensch») registrieren es.

Er kommt wie von der Tarantel gestochen an die Seitenlinie. Formt zweihändig mit Daumen, Ring- und Mittelfingern die international verständliche Geste für Plappern. Und zieht dann beidhändig ­einen horizontalen Strich: Schluss damit!

Pause. «Gäbed äm Schiri en Bächer z suffä!» Den lauwarmen Pausentee (dieser Brauch scheint Generationen überdauert zu haben) gibt er weiter, er bevorzugt kaltes Wasser.

Im nonverbalen Dialog mit BLICK zeigt er auf seine linke Brusttasche, in der die Gelbe Karte sitzt, formt mit Daumen und Zeigefinger eine Null und lächelt stolz. Er musste noch keine Verwarnung aussprechen.

Auf beiden Seiten Penalty

Das wird in Halbzeit zwei anders. Die Atmosphäre wird giftiger. Sieben Mal muss Niederberger zur Brusttasche greifen. Er pfeift auf beiden Seiten Penalty.

«Über die Elfmeter kann man diskutieren», sagt danach Ex-GC-Meisterkicker Digenti. Roger Hummel, Trainer des Heimklubs, meint: «Die Penaltys waren nicht matchentscheidend.»

Als Rümlang das 3:1 schiesst, fährt ein Glattfelder Kicker aus der Haut: «Hey, Schiri, du machst das ganze Spiel kaputt!» Der Goalie des Heimklubs ist entsetzt und ruft: «Stellen die uns einen solchen Schiri hin ...»

Später gibts gar eine Rudelbildung. Niederberger greift ein. Zweimal Gelb. Untermalt in deutlicher Zeichensprache: Fertig jetzt! Sonst geht ihr beide raus!

95. Minute. Der Schiri pfeift dreimal. Alle hören es, nur er nicht. Rümlang gewinnt 4:2.

Handshake mit allen Spielern

Es kommt zum versöhnlichen Handshake des Gehörlosen mit allen Akteuren.

Beim Interview mit BLICK – Niederberger beantwortet die Fragen auf dem Laptop – schreibt der Metallbauer und Hausabwart zweihändig: «Ja, ich glaube, das Spiel ist gut gelaufen. Wichtig ist, dass man sich die Hand reichen kann.»

Ist der Schiri gehörlos geboren? «Nein, das passierte mit sechs Monaten auf einem Flug.» Niederbergers Gattin ist auch gehörlos.

Die drei gemeinsamen Söhne Tuncer (15), Camillus (13) und Callum (11) haben keine Hörbeeinträchtigung. Die drei spielen beim FC Rapperswil-Jona Fussball. 

Er will in die 2. Liga

«Ich will Schiedsrichter in der 2. Liga werden», sagte Niederberger vor vier Jahren der «Glarner Woche». Der Traum hat sich erfüllt. Und jetzt? Niederberger tippt in den BLICK-Laptop: «2. Liga inter!» Und zieht mit der Hand über seinem Kopf einen Strich: Höher nach oben geht es für einen Gehörlosen nicht.

Rümlang-Trainer Digenti: «Die Geräusche, die bei Zweikämpfen entstehen, hört er nicht. Aber das ist kein Vorwurf. Er hat mit den Händen gut kommuniziert, man hat nicht gemerkt, dass er eine Behinderung hat. Ihm gehört mein vollster Respekt.»

Und Glattfeldens Hummel, der im Job tagtäglich mit einem Gehörlosen zu tun hat: «Die Verständigung war gut. Sonst hat er Fehler gemacht wie jeder Schiri.» 

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