Wir erreichen Sie in ihrem Elternhaus in Bülach ZH. Wollten Sie die Corona-Krise nicht in ihrer Wahlheimat Belgien erleben?
Jeremy Seewer: Bei solchen Ausnahmesituationen zieht es einen einfach nach Hause. Hier bei den Eltern bin ich nicht eingesperrt und kann mich fürs Fitness-Training frei bewegen. In Belgien lebe ich wegen den guten Töff-Trainingsmöglichkeiten. Aber das ist ja jetzt verboten.
Geniessen Sie die Auszeit in der Schweiz?
Ich habe in Bülach zwar meine eigene Adresse. Aber es ist schön, wieder etwas das Hotel Mama geniessen zu dürfen. Doch ich esse nicht immer mit den Eltern, ich habe meine Freiheiten (schmunzelt). Ich geniesse es, Im Gegensatz zu sonst mal längere Zeit hier zu sein, etwas runterzufahren und die Familie geniessen.
Aber ohne ihre Freundin Dagmar?
Sie ist Belgierin und in ihrer Heimat geblieben. Das ist natürlich nicht einfach für uns. Aber so geht es momentan vielen Menschen.
Fürchten Sie, dass sie Dagmar noch monatelang nicht sehen können?
Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Im Moment halten wir es aus. Wir schreiben uns viel und telefonieren oft. Wenn es unbedingt sein müsste, würde sich wohl ein Weg finden lassen, nach Belgien zu reisen. Mein Yamaha-Team ist ja dort stationiert.
Wie verbringen sie jetzt ihre Zeit?
Ich trainieren viel Kondition und Kraft. Meistens gehe ich am Morgen eine Stunde Joggen. Dann folgt eine Stunde Fitness. Am Nachmittag geht’s noch zwei, drei Stunden aufs Rennvelo oder aufs Mountainbike. Ich versuche zu variieren. Mit meinem Bruder Roger gehe ich am Uetliberg zum Biken. Aber ich bin auch schon ein paar Mal rund um den Flughafen geradelt. Das ist meine Erholungsrunde. Sehr speziell, ohne Fluglärm!
Gibt es auch Töff-Trainings auf ihrer Motocross-Piste im Garten der Eltern, auf der sie gross geworden sind?
Richtig nutzen kann ich sie nicht. Ich habe ja meinen Werks-Töff nicht hier. Die Strecke war seit vier Jahren stillgelegt, alles war völlig mit Gras überwachsen.
Jetzt ist das Gras weg?
Ja, ich bin mit dem Bagger ans Werk gegangen. Jetzt ist die Strecke wieder in Betrieb, aber da geht es mehr um den Spass, nicht um tägliches Training. Die Piste ist zwar auf kleinem Raum gebaut, aber technisch anspruchsvoll. Es ist hilfreich, damit ich nicht gleich monatelang auf das Töff-Fahren verzichten muss. Aber ich riskiere nichts.
Das nächste Rennen im Kalender wäre der Russland-GP im Juni. Glauben Sie daran?
Es scheint wenig realistisch, dass im Juni der ganze MXGP-Tross nach Russland fährt. Das ist eben das Schwierigste für uns Sportler.
Was meinen Sie?
Es ist hart, nicht zu wissen, wann es weitergeht. Mit einem klaren Datum, selbst wenn es erst im August wäre, könnten wir uns seriös vorbereiten. Aber momentan schwimmen wir alle im Nirgendwo. Das Finale soll nun erst im November sein. Aber womöglich fahren wir dieses Jahr ja gar nicht mehr.
Was würde das finanziell bedeuten?
Angst ums Überleben habe ich nicht. Ich konnte letztes Jahr einen sehr guten Vertrag abschliessen. Ich habe ein Grundgehalt, das mich absichert. Wäre ich verletzt, würde ich ja auch keine Rennen fahren, aber bekäme einen gewissen Prozentsatz des Grundgehalts. Jetzt müssen wir zuerst abwarten, wieviele Rennen es diese Saison noch gibt.
Ist die unterbrochene Saison umso ärgerlicher, weil Sie als MXGP-Vizeweltmeister viel vor hatten?
Ja, schon. Ich hatte einen sehr, sehr guten Winter gehabt und war gut in Form. Beim Auftakt hätte ich ohne eine Kollision im 2. Lauf wohl einen Podestplatz geholt (Rang 4, d. Red.). Der zweite GP war hingegen eine Ansammlung von Pleiten, Pech und Pannen. Nach so einem Mist-Renntag will man es sofort wieder gut machen. Aber nun sitzen wir schon seit Wochen nur rum.
Wie bleiben Sie dabei positiv?
Ich versuche einfach die Zeit zu geniessen. Jetzt bin ich einfach mal Jeremy Seewer und nicht der Motocross-Profi. Ohne Reisen und Termine. Ich kann vieles machen, wofür sonst die Zeit fehlt.
Zum Beispiel?
Ich schraube gerne und revidiere in der Garage Motoren. Ich mache eigene Designs für meine Helme. Und ich arbeite an einem neuen Fanklub mit einem neuen Magazin. Für solche Sachen hat man nun Zeit, sonst hätte ich jemanden beauftragen müssen.