Am Ostermontag wühlt sich Jeremy Seewer (30) mit seinem Motocross-Töff beim Grand Prix in Frauenfeld durch den Thurgauer Erdboden, Zehntausende Fans werden ihrem grossen Schweizer MXGP-Helden die Daumen drücken. Doch Seewer absolviert schon vier Tage vor dem ersten Training in Frauenfeld einen Termin, der ihm ganz besonders am Herzen liegt.
Seewer besucht in Eschlikon TG den brandneuen Hauptsitz von Chris Sports. Das ist ein grosser Sportartikel-Grosshändler, der diverse Marken in die Schweiz importiert. Im Treppenhaus hängen die überlebensgrossen Porträts von vielen bekannten Schweizer Sportlerinnen und Sportlern. Auch Seewer ist neben Namen wie Dario Cologna, Alexis Monney, Noè Ponti und Alessandra Keller an der Wand zu finden.
Seewer feiert im Thurgau einen Sponsoren-Deal
Warum der Zürcher in dieser Eingangshalle neben den anderen Sportgrössen hängt? Weil der Sportartikeldistributor einen Motocross-Ausrüstungshersteller aus den USA neu in sein Portfolio aufgenommen hat – und Seewer seit seinem spektakulären Rennstallwechsel von Kawasaki zu Ducati neu Botschafter dieser Marke geworden ist. «Endlich hat es mit Fox geklappt», freut sich Seewer. Früher fuhr er jahrelang für Rennteams, die den Fahrern keine solchen Ausrüsterdeals zugestanden haben.
Jetzt bei Ducati war es möglich. Seewer vergleicht es mit einem individuellen Kopfsponsoring im Skisport, das er schon lange selber abschliessen wollte.
Es ist für ihn ein emotionaler Deal. Der Europa-Chef von Fox ist mit dem Deutschen Thomas Ramsbacher einer der wichtigsten Weggefährten in Seewers WM-Karriere. Im kleinen deutschen Suzuki-Team feierte Seewer vor über zehn Jahren seine ersten Erfolge in der Motocross-WM, seither ist er fünfmal Vizeweltmeister geworden. Er ist längst der erfolgreichste Schweizer Solo-Fahrer im GP-Sport.
Mittlerweile ist das Sponsoring-Meeting in Eschlikon vorüber. Seewers Fokus geht jetzt wieder Richtung Ostermontag, wenn er keine zwölf Kilometer entfernt auf der Schollenholz-Rennstrecke am Frauenfelder Stadtrand gegen die weltbesten Motocross-Piloten antritt. «Vor zwei Jahren kam ich nach Frauenfeld und wollte gewinnen», sagt er, «diesmal bin ich mit dem neuen Töff noch mitten im Entwicklungsprozess. Aber gute Ergebnisse sind bereits möglich. Ich freue mich sehr aufs Heimrennen.»
Dann zeigt Seewer Blick seine Arbeitskleidung, die er in Frauenfeld und den weiteren 19 Grand-Prix-Stationen weltweit auf seinem Töff trägt. Die Outfits der Motocrosser sind stets knallbunt und wechseln manchmal von Rennen zu Rennen. Doch was steckt unter der bunten Textilhaut? Eigentlich verblüffend wenig, wenn man bedenkt, dass Motocross wegen der hohen Sprünge ein regelrechter Knochenbrecher-Sport ist. Blessuren sind der Normalfall.
Seewer hat vom letzten GP in Italien am linken Ellbogen eine Wunde mitgebracht. Und als er das T-Shirt hochzieht, kommen auf dem Schulterblatt heftige Kratzspuren zum Vorschein, die ein gegnerisches Motorrad (!) hinterlassen hat. Aber der Zürcher winkt ab: «Da ist nur die Haut betroffen. Das ist nicht der Rede wert und in zwei, drei Tagen wieder praktisch verheilt.»
Körperkühlung ist ein Faktor
Massiv geschützt sind abgesehen vom Kopf die Füsse, Schienbeine und Knie. Dank der Stiefel und der massangefertigten Knie-Orthesen aus Karbon, die Seewer in seinem eigenen Design anfertigen liess. Aber oberhalb der Gürtellinie ist abgesehen vom Brust- und Rückenpanzer von Protektoren keine Spur. Seewer verzichtet auf Ellbogenschoner. «Die verrutschen zu rasch», schildert er.
Ein erheblicher Faktor neben der Bewegungsfreiheit beim artistischen Töff-Sport ist auch die Körperkühlung. Mehr Protektoren oder dicke Stoffe würden den Fahrtwind aufhalten, der Körper würde viel mehr schwitzen und weniger leistungsfähiger werden. Seewer verwendet deshalb luftige Handschuhe, die eigentlich nichts mit herkömmlichen Motorradhandschuhen zu tun haben. Es sind dünne Exemplare aus dem Velobereich.
Doch wenn bei einem Piloten die Ausrüstung «verhebet», dann bei Seewer. Er gilt längst als physisches Phänomen in der WM, weil er sich noch nie schwer verletzte. «Da ist aber auch Glück dabei.» Frauenfeld ist sein 210. Grand Prix in Folge – ein beispielloser Rekord in der MXGP-Szene, wo mit Verletzungen pausierende Stars völlig normal sind.
Wenn es nach Seewer geht, kommen in Zukunft noch viele GP dazu. Das Projekt, die MotoGP-Marke Ducati mit ihm als Nummer-1-Fahrer auch offroad Fuss fassen zu lassen, hat ihn richtig gepackt. «Der Wechsel war ein Risiko», sagt der aktuelle WM-Zehnte, «aber wenn es klappt, Ducati von null bis an die Spitze zu bringen, wird es das schönste Gefühl überhaupt sein.» An der Ausrüstung wirds sicher nicht liegen.