Die Schweizer Hymne war in der Töff-WM längst zum Ladenhüter geworden. Doch dann kommt Tom Lüthi. Als junger Töff-Stift siegt er heute vor 15 Jahren erstmals in der WM. Und erstmals seit 1989, als Jacques Cornu in Belgien gewinnt, steht wieder ein Schweizer Pilot ganz zuoberst. Für Zahlen-Fans bemerkenswert: Lüthi gewinnt damals in Frankreich just an Cornus Geburtstag. Der Romand mit dem markanten Schnauz wird heute 67 Jahre alt.
Bei Lüthi hingegen spriessen an jenem 15. Mai 2005 noch kaum Barthaare, als er den ersten seiner bisher 17 GP-Siege holt. Er ist gerade mal 18 Jahre alt und fährt in der 125-ccm-Klasse seine dritte GP-Saison. «Krass, wie lange her das schon ist», sagt der Emmentaler schmunzelnd über die körnigen TV-Bilder, die noch im alten 3:4-Format gesendet wurden.
«Hoffentlich hält der Hiterreifen durch»
Eines ist aber bis heute geblieben. Lüthi siegt 2005 in Le Mans nach dem Rezept, das er bis heute bevorzugt: Rasch einen Vorsprung herausfahren, Zweikämpfe vermeiden und mit sicherem Abstand ins Ziel fahren. «Als ich vorne war, hatte ich nur einen Gedanken: Hoffentlich hält der weiche Hinterreifen durch! Eigentlich war ich nach den Trainings überzeugt, dass er hält. In Le Mans wird wenig Schräglage gefahren, das schont den Reifen. Doch alle Gegner hatten den härteren Reifen genommen. Da beginnt man dann doch zu grübeln, wenn man solo vorne liegt.»
Doch der Gummi hält an diesem kühlen Mai-Sonntag durch. Nach der letzten Kurve dreht sich Lüthi kurz nach den Gegnern um. Dann fährt er stehend über die Ziellinie, bevor er ungläubig die Hände an den Helm schlägt. «Es geschafft zu haben, war ein überwältigendes Gefühl», sagt Tom. Die Mechaniker aus dem Elit-Honda-Team von Daniel Epp – bis heute als Manager an Lüthis Seite – schwenken eine Schweizer Fahne.
Auf dem Podest verspritzt der Emmentaler erstmals Sieges-Champagner. Allerdings mit etwas mulmigem Gefühl. «Auf der Auslaufrunde ist mir das Benzin ausgegangen. Da fürchtete ich etwas, dass eine Disqualifikation wegen zu wenig Benzin im Tank drohen könnte. Doch bald war klar, dass alles okay ist. Dann konnte ich es richtig geniessen.»
Erster Sieg in der WM – für Lüthi ist es ein Moment voller Emotionen. «Wann will ja immer gewinnen, egal ob Pocketbike, deutsche Meisterschaft oder in der WM. Doch zum ersten Mal die besten 125-ccm-Fahrer der Welt geschlagen zu haben, war richtig cool.»
Danach gehts so schnell wie möglich heim nach Linden BE. Lüthis Eltern Silvia und Peter waren in Le Mans nicht vor Ort dabei. Toms langjähriger Vertrauter Igor Strauss fährt den Teenager heim. Sie kommen mitten in der Nacht im 1300-Seelen-Dorf an. Lüthi: «Wir sind um 4 oder 5 Uhr morgens heimgekommen. Doch das halbe Dorf war noch wach und ist für mich Spalier gestanden», erinnert sich Lüthi.
Mit einem Schlag zu einem Schweizer Sport-Promi
Dass er nach dem Coup im vierten Saisonrennen bis Ende Jahr noch drei weitere Siege einfährt und schon mit 19 Jahren Weltmeister wird, ahnt der Emmentaler da noch nicht. Zwar ist Lüthi beim Saisonauftakt in Führung liegend mit Kolbenklemmer ausgeschieden und fährt in Portugal auf Rang 3. Lüthi: «Der erste Sieg kam trotzdem überraschend. In der WM habe ich lange nicht realisiert, dass ich eine Titelchance habe.» Der Titel katapultiert den Töff-Stift mit einem Schlag zu einem Schweizer Sport-Promi. Er wird Sportler des Jahres.
Bis heute jagt der Berner, längst ein Routinier mit 287 GPs und 65 Podestplätzen, über die Rennstrecken. Das Karrierenende ist nicht in Sicht. «Der erste Sieg motivierte mich extrem für die weitere Karriere. Man wird süchtig nach Siegen.»
Tom will weitere Triumphe einfahren – die Trophäen hingegen sind eher Staubfänger. «In meiner Stube stehen die neueren Pokale wie von Austin 2019.» Wo ist der historische von Le Mans 2005? Lüthi: «Keine Ahnung! Vermutlich in meiner Werkstatt oder im Keller.»