BLICK: Frau Van de Leur, sind Sie glücklich?
Verona van de Leur: Ja, auch wenn ich zurzeit wegen des Coronavirus leider in Belgien festsitze. Ich habe zwar in meinem Leben viele Fehler gemacht und falsche Entscheidungen getroffen, aber ich kann noch immer in den Spiegel schauen.
Obwohl Sie erst 34-jährig sind, haben Sie schon unglaublich viel erlebt. Ihre erste Karriere war die als Kunstturnerin.
Mit neun Jahren begann ich, professionell zu trainieren. Das war hart, hat aber Spass gemacht. Als ich die ersten Male siegte, waren meine Eltern sehr stolz auf mich. Ab diesem Moment gab es kein zurück mehr. Je älter ich dann wurde, desto grösser wurde der Druck.
1999 turnten Sie als Juniorin in Lugano und siegten.
Ich kann mich noch gut daran erinnern. Eine Teamkollegin von mir feierte da Geburtstag und wir hatten viel Spass zusammen. Ich war in den Jahren richtig gut. 2002 gewann ich an den Europameisterschaften fünf Medaillen und an der WM Silber. Ausserdem wurde ich zu Hollands Sportlerin des Jahres gewählt.
Turnten Sie auch gegen Ariella Kaeslin?
Ja, Ariella war ein nettes Mädchen. Wir haben uns gelegentlich auch ein bisschen unterhalten können, weil ihre Ärztin holländisch sprach und für uns übersetzte.
Trotz der Erfolge wurden Sie immer unglücklicher. Warum?
Es gab viele Gründe. Ich hatte unter anderem Probleme mit dem Verband und mit den Trainern. Ich wollte ein normaler Teenager sein und ein anderes Leben führen. Doch wer im Kunstturnen erfolgreich sein will, der muss auf viele soziale Kontakte verzichten.
Wurden Sie auch misshandelt?
Ja, psychisch und sexuell. Von verschiedenen Menschen aus dem Kunstturn-Milieu. Mehr darüber erzählen möchte ich aber nicht.
Nach Ihrer Karriere 2008 fielen Sie in ein Loch. Was lief schief?
Wenn du aufhörst, brauchen dich all die Leute nicht mehr. Doch das Kunstturnen war meine Welt. Ich war von heute auf morgen alleine.
Gab Ihnen wenigstens die Familie Halt?
Nein, sie haben nicht akzeptiert, dass ich mit 22 ein neues Kapitel in meinem Leben beginnen wollte. Zudem hatten sie mir all mein Geld, das ich verdient hatte, abgeknöpft. Das waren gegen 100'000 Euro. In dem Moment hatte ich nichts mehr. Keine Familie, kein Geld. So rutschte ich immer tiefer ab, bis ich obdachlos war.
Wie sah Ihr Leben da aus?
Ich habe mehr als zwei Jahre in einem Auto gelebt. Zusammen mit meinem Freund. Es gab vor allem im Sommer auch schöne Tage, aber die Winter waren hart. Wir sassen 24 Stunden im Auto. Hatten Hunger, aber nichts zu essen und kein Geld. Gehen Sie mal bei Minus 23 Grad pinkeln, wenn das Auto komplett eingeschneit ist. Manchmal wussten wir nicht, ob wir die Nacht überleben werden.
Dachten Sie an Selbstmord?
Einmal. Nach zwei Jahren Funkstille traf ich meine Mutter wieder. Ich hoffte, sie hätte mich vermisst. Sie sagte mir aber, sie wäre froh gewesen, wenn ich nie geboren worden wäre und nannte mich eine Hure. Ich ging zum Bahnhof und wartete, bis der nächste Zug kam. Aber zum Glück hielt mich irgendetwas zurück.
War damit der Tiefpunkt erreicht?
Leider noch nicht. Als ich im Auto lebte, ging ich im Sommer manchmal in den Park, um Bilder von Tieren zu machen. Dabei entdeckte ich ein Pärchen, das Sex hatte. Ich filmte sie und erpresste sie anschliessend damit. Das war natürlich dumm von mir. Doch statt mir die geforderten 1000 Euro zu übergeben, gingen sie zur Polizei. Ich wurde verhaftet und verbrachte 72 Tage im Gefängnis.
Wie waren die Tage im Knast?
23 Stunden am Tag in der Zelle zu sitzen, ist nichts für mich. Doch ich hatte das verdient, weil ich das Gesetz gebrochen hatte.
Nach dieser Zeit landeten Sie in der Sex-Branche. Wie kam es dazu?
Ich hatte nichts zu verlieren und konnte auch keine Freunde oder die Familie enttäuschen. Ich hatte schon immer davon geträumt, eigenständig zu sein und so mein Geld zu verdienen. Das war meine Chance, etwas aus meinem Leben zu machen. Also entschied ich zusammen mit meinem Freund, in dieses Geschäft einzusteigen.
Was haben Sie alles gemacht?
Vieles, aber alles nur mit meinem Freund. Wir konnten einiges aufbauen. Selbst wenn jetzt viele Leute denken, ich sei verrückt oder dumm, ich habe das gerne gemacht und bin glücklich, wo ich jetzt bin.
Haben Sie mit dem Sex-Business mittlerweile abgeschlossen?
Ende des letzten Jahres sind wir ausgestiegen, wir vertreiben aber immer noch unsere alten Inhalte.
Viele Menschen regen sich über die Porno-Branche auf. Können Sie das verstehen?
Zum Teil ja. Aber sind wir mal ehrlich: Die Leute, die mich immer als böses Mädchen bezeichnen, haben wohl am meisten zu verstecken. Das Ganze ist ein Bedürfnis. Gerade in Zeiten des Coronavirus. Viele Porno-Seiten boomen momentan.
Eine gewagte Frage: Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen der Erotik-Branche und dem Kunstturnen?
Die gibt es. Sowohl als Turnerin als auch als Erotikdarstellerin muss man es mögen, seinen Körper zu präsentieren. Und bei beidem ist es von Vorteil, beweglich zu sein (lacht).
Was machen Sie heute?
Die letzten eineinhalb Jahre habe ich viel an meiner Biographie geschrieben. Und ich gehe heute in Schulen und spreche offen und öffentlich über mein Leben und wie man mit Problemen umgeht.
Verfolgen Sie das Kunstturnen noch?
Ja, ich bin sogar gelegentlich noch an Wettkämpfen und schreibe für eine niederländische Zeitung. Letztes Jahr sah ich Giulia Steingruber. Ich mag sie. Sie ist ein gutes Vorbild für die Mädchen und Frauen.