Die Online-Kommentare sind heftig. «Die Natur hat es so eingerichtet, dass es Mann und Frau braucht, um ein Kind auf die Welt zu bringen», schreibt Sarah S. Und Hans L. enerviert sich: «Jetzt war wohl ein Kind auf dem Einkaufszettel. Bestellt, gekauft und abgeholt.»
Ausgelöst hat diese Kommentare Olivier Borer. Jetzt sitzt er in seiner Wohnung am Esstisch. Den Grund der Entrüstung hält er liebevoll in seinen Armen, seinen zweimonatigen Sohn Naël Yunus. Auf dem Sofa sein Mann, der in der Öffentlichkeit namen- und gesichtslos ist, weil er das so möchte.
Man fühlt sich sofort wohl hier. Hört Borer gerne zu, der ehrlich jede Frage beantwortet. Der von sich selbst sagt, dass er introvertiert ist, der aber gleichzeitig offen über sein Schwulsein und seine Vaterschaft spricht und der einen Beruf in der Öffentlichkeit ausübt. Irgendwie passt das alles auf den ersten Blick nicht so richtig zusammen. Und man fragt sich, warum sich einige so von ihm zur Weissglut getrieben fühlen, dass sie solche Online-Kommentare schreiben.
«Mir liegen die leisen, feinen Töne. Ich bin definitiv kein Lautsprecher», charakterisiert er sich selber, «doch ich möchte mit meiner Geschichte anderen Mut zusprechen. Mir haben diese nonkonformen Vorbilder lange gefehlt. Deshalb rede ich offen über meinen Lebensweg.» Einen Lebensweg, mit dem er oft angeeckt ist. Nicht weil er besonders mutig ist, sondern weil er so ist, wie er ist.
Teil I: Die Kindheit
Aufgewachsen ist der heute 41-Jährige im Schwarzbubenland. Ein Einfamilienhäuschen in Breitenbach SO. Der Vater Personal- und Unternehmensberater, die Mutter Hausfrau, Flight Attendant bei der Swissair und während des Grossteils ihrer beruflichen Laufbahn kaufmännische Angestellte. Ein jüngerer Bruder.
Seine Leidenschaft als Kind? Tennis. «Rückhand Longline – das war mein Lieblingsschlag.» Einmal wird er gar Vize-Kantonalmeister des Kantons Solothurn. Die Silbermedaille hat er bis heute aufbewahrt. Der ganz grosse Ehrgeiz hat ihn aber nie gepackt. «Ich habe manchmal sogar dem Gegner gegönnt, wenn er gewonnen hat.»
Es klingt alles nach der perfekten Bilderbuch-Kindheit. War es auch, aber: «Ich habe schon früh gemerkt, dass ich anders bin als andere Buben. Vielleicht habe ich deshalb gedacht: Am besten fällst du nicht auf. Es kommt ja noch etwas.»
Das «Etwas» ist die Homosexualität. Borer spielt schon früh am liebsten mit Barbie-Puppen. Seine besten Freunde sind Mädchen. Er liebt es, sich zu verkleiden. Und wenn Mama den neuen Sommermodekatalog erhält, schaut er sich darin die Männer an, die mit nacktem Oberkörper Badehosen präsentieren.
Zuerst versteht Borer selber nicht, was genau in ihm vorgeht. «Schwulsein – ich wusste ja gar nicht, was das ist. Als ich es irgendwann verstand, fühlte ich mich deswegen oft einsam. Ich hatte das Gefühl, ich sei der einzige Schwule auf der Welt.» In der Schule wird er deswegen gehänselt. «Das hat mich schon sehr getroffen. Heute würde man das, was mir widerfahren ist, wohl Mobbing nennen.»
Zur gleichen Zeit kriselt es auch bei seinen Eltern. Es kommt zur Scheidung. Eine schwierige Zeit, «doch zum Glück ist längst wieder alles gut». Familienfeste feiern sie seit Jahren, wenn immer möglich, alle gemeinsam.
Als er 18 ist, wagt er ein Probe-Coming-out. Bei einer Freundin, aber bewusst nicht bei seiner besten Freundin. Er schreibt ihr einen Brief, erklärt darin, was er fühlt. Dass sie positiv darauf reagiert, gibt ihm Selbstvertrauen. Wenig später entdeckt seine Mutter Tagebucheinträge, die er nur dilettantisch entsorgt hat. Deshalb fragt sie ihn: «Bist du schwul?» Seine Antwort: «Ich möchte nicht darüber reden», was natürlich auch eine Antwort war.
Blickt Borer zurück auf seine Teenager-Zeit, sagt er rückblickend: «Mittlerweile bin ich im Reinen mit mir, doch das hat lange gedauert.» Der Prozess des Coming-outs sei noch immer nicht komplett abgeschlossen. «Selbst wenn ich heute neue Menschen kennenlerne, ist es immer noch ein bisschen wie ein Coming-out. Es gibt immer eine kurze Ungewissheit darüber, wie mein Gegenüber darauf reagiert.»
Teil II: Die SRF-Karriere
Seit 2008 arbeitet Olivier Borer im Leutschenbach. Als für die Hintergrundsendung Sportlounge ein Moderator gesucht wird, interessiert er sich zwar dafür, getraut sich zuerst aber nicht, am Casting teilzunehmen. Bis sein damaliger Chef sagt: «Mach es!»
Borer überzeugt die Vorgesetzten, bekommt den Job und steht 2012 im Gespräch mit Nicola Spirig erstmals vor der Kamera. Heute sagt er: «Ich bin grundsätzlich nicht mit mega viel Selbstvertrauen gesegnet. Das hat sich in den letzten Jahren schon verändert, aber ich laufe immer noch nicht mit breiter Brust durch die Stadt und sage: Ich bin der Grösste.»
Mit der TV-Präsenz kommen auch die Öffentlichkeit und die Kritiken. Und die sind oft nicht sehr wohlwollend ihm gegenüber. «Eingefädelt! Bei den Zielraum-Interviews wirkt er unsicher, teils anbiedernd – häufiges Blinzeln verstärkt den Eindruck, er sei überfordert», schreibt «Tele» 2014. Und in einem Blick-Leser-Voting 2016 belegt er bei den Sportmoderatoren den letzten Platz.
Während andere sagen würden, solche Kommentare würden ihnen nicht nahegehen, zeigt Borer auch in diesem Punkt seine verletzliche Seite. «Ich kann nicht verneinen, dass mich diese Kritiken getroffen haben. Manchmal habe ich mich schon gefragt: Will ich das wirklich? Habe ich eine genug dicke Haut, um mich dem auszusetzen?» Und, hat er die? «Ja, sonst wäre ich nicht mehr vor der Kamera. Das Gemeine beim Fernsehen ist, dass du live auf dem Sender üben musst und dass du immer mit denen verglichen wirst, die das schon seit 20 Jahren machen.»
Borer sagt von sich selbst, dass ihn im Sport vor allem die Hintergrundgeschichten interessieren und er nicht so aktualitäts- und fussballgetrieben sei. «Ich habe am liebsten Sendungen, in denen ich einen Gast habe. Es soll nicht um mich gehen, ich muss mich nicht produzieren.»
Mit anderen Worten: Borer sähe sich in einer Sendung wie das Sportpanorama. Doch die neue Moderatorin heisst dort Fabienne Gyr. Ist das ein Zeichen, dass intern nicht auf ihn gesetzt wird? Für einmal antwortet Borer diplomatisch: «Es hängt viel von Zufällen ab. Man muss zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein. Wie an vielen anderen Orten pflegt auch bei SRF jeder sein eigenes Gärtli. Ich werde nicht die Ellbogen ausfahren, nur weil man es vielleicht so machen müsste.»
Borer spürt offenbar selber, dass SRF Sport die Zukunft nicht gerade um ihn herumbaut. Dass die Hintergrundsendungen immer mehr von der Bildfläche verschwinden. «Während Corona habe ich mich schon gefragt, was aus mir wird. Ich ging auf die 40 zu und stellte mir die Sinnfrage.»
Das Ergebnis seiner Überlegungen: Er hat sein SRF-Pensum auf 30 Prozent reduziert und vor einem Jahr an der PH Zürich seine Ausbildung zum Lehrer angefangen. Schon jetzt unterrichtet er jeden Mittwochmorgen in Höngg ZH eine sechste Klasse. «Mein Wunsch ist es, in Zukunft beides zu machen: Lehrer und Moderator. Wie realistisch das ist, weiss ich nicht. Schliesslich gibt es ja jetzt noch dieses kleine Wunder.»
Teil III: Die Vaterschaft
Dieses kleine Wunder heisst Naël Yunus und liegt seit über einer Stunde brav in seinen Armen. Schon als Jugendlicher träumte Borer immer von einer eigenen Familie. «Doch als ich realisierte, dass ich schwul bin, ist dieser Traum geplatzt.»
Zumindest für den Moment, aber schon beim ersten Date, das er vor über 20 Jahren mit seinem heutigen Mann hatte, erzählt Borer von seiner Sehnsucht nach einem Kind. Vor rund fünf Jahren wird aus dem Traum ein realistisches Ziel. Ein Ziel mit vielen Hürden.
Es braucht eine Leihmutter, eine Eizellenspenderin, eine Speditionsfirma, die das Sperma der beiden Väter mit Stickstoff gekühlt in die USA liefert, weil eine Leihmutterschaft in der Schweiz verboten ist. Und es braucht Geld. Viel Geld. Über 100’000 Franken kostet die Erfüllung des Traums. «Wir haben uns als Paar lange überlegt, ob wir das tun sollen, denn wir sind uns bewusst, dass das Ganze auch ein Businessmodell ist. Aber wir haben uns nicht ein Baby gekauft. Wir haben den Prozess gekauft, der uns zum Baby verholfen hat, zu unserem absoluten Wunschbaby.»
Noch ist der Prozess nicht abgeschlossen. Zurzeit besitzt Naël Yunus nur den amerikanischen Pass. In den nächsten Wochen wird per Vaterschaftstest festgestellt, wer der leibliche Vater ist – Borer oder sein Mann. Später kann dann der andere Vater einen Adoptionsantrag stellen. So will es die Schweizer Gesetzgebung.
Dass Borer mit der Leihmutterschaft mal wieder negative Reaktionen ausgelöst hat, damit kann er mittlerweile gut leben. «Das Schöne: Es gab viel mehr positives Feedback als negatives. Und vielleicht können wir ja anderen Paaren mit unserem Gang an die Öffentlichkeit Mut machen.»
Mittlerweile ist Naël Yunus wieder aufgewacht und schaut seinen Vater mit offenen Augen an. Noch einmal fragt man sich, warum ausgerechnet dieser nette Mann so polarisiert und was all die Kritiken mit ihm gemacht haben. «Ich bin daran gewachsen und habe viel über mich gelernt. Jetzt habe ich den Weg zu mir selber gefunden. Ich bin dort angekommen, wo ich immer hinkommen wollte.»