Bin ich zu schwer? Soll ich abnehmen? Wie denken andere über mich? Es sind Fragen, die viele junge Frauen beschäftigen. Jeannine Gmelin erging es als Teenager nicht anders. «Ich hatte nie so dünne Beine wie andere. Das war schwierig zu akzeptieren», erzählt die beste Ruderin der Schweiz.
Erst im vergangenen Jahr in Rio, nach ihrem 5. Olympia-Rang im Skiff, schloss sie, wie sie es selbst ausdrückt, «Frieden mit dem eigenen Körper». Die heute 27-Jährige erklärt: «Es ging relativ lange, bis ich gemerkt habe: Es spielt keine Rolle, was die anderen denken. Heute bin ich froh, dass ich diesen Körper habe.»
Genau dieser Körper ist es, der es Gmelin in diesem Jahr ermöglichte, zwei von drei Weltcuprennen zu gewinnen. Trotz eines offensichtlichen Nachteils: Die Zürcherin vom Ruderclub Uster misst nur gerade 1,71 Meter. Damit ist sie bis 20 Zentimeter kleiner als ihre grössten Konkurrentinnen – beim Rudern ein riesiges Handicap, ist doch die Hebel wirkung damit viel geringer.
«Einige rieten mir, abzunehmen»
Von der Schwer- in die Leichtgewichtsklasse zu wechseln, wäre angesichts dieser Fakten nur logisch – da wären ihre Gegnerinnen ähnlich gross. Oder eben klein. Doch dafür müsste die Frau, die mit ihren muskulösen Oberschenkeln viele Rad-Sprintstars in den Schatten stellen würde, viel Gewicht verlieren. Konkret: 10 Kilogramm. Aktuell wiegt Gmelin 69 Kilo, im Leichtgewicht dürften es aber maximal 59 Kilo sein. «Einige Leute rieten mir, abzunehmen. Ich habe zwar darüber nachgedacht. Aber nur kurz.»
Das Risiko, dass es mit einer Radikalkur gesundheitlich bachab gehen könnte, wäre gross. «Die Ärzte rieten mir davon ab. Schliesslich sind meine Muskeln auch ein Schutz, ich würde mich sonst eher verletzen.» Und da ist noch etwas anderes: die Psyche. «Ich koche gerne, ich esse gerne. Und ich will nicht immer Kalorien zählen müssen», sagt Gmelin und ergänzt: «Jetzt liegt auch mal ein Glacé drin. Dass ich diese Freiheit habe, ist wunderbar – denn ich bin auch ein Genussmensch.»
Der Erfolg gibt Gmelin recht. Vor der heute beginnenden WM in Sarasota (Florida/USA) ist klar, dass der Weg zur Goldmedaille im Einer nur über sie führt. Was unglaublich tönt, ist es auch. Denn: Vor 15 Monaten hätte sie von einer solchen Ausgangslage nur träumen können. Wie erklärt sich die Single-Frau ihre Leistungsexplosion? «Ich habe einige Jahre gebraucht, um mir alle Skills zu erarbeiten. Jetzt habe ich alles im Rucksack. Und ich bringe die Puzzlestücke zu einem grossen Ganzen zusammen.»
Tattoo als Zeichen
Der einsetzende Erfolg war für die Powerfrau allerdings nicht nur Genuss. Nein, er war auch schwierig zu verarbeiten. «Ich war damit überfordert», gibt sie offen zu. Mit Hilfe eines Sportpsychologen gelang es. Das führte zu noch mehr Erfolg. Ein Schneeballeffekt mit Folgen: Endlich konnte sich Gmelin, die lange bei ihren Eltern oder in einer WG wohnte, eine eigene Wohnung in der Nähe des Trainingszentrums in Sarnen OW leisten. Dazu machte die Kauffrau den Schritt zum Vollprofi.
Viele Veränderungen. Stets gleich blieb allerdings Gmelins Hingabe zum Rudern, dank der sie laufend die eigenen Grenzen verschiebt. «Trainings bis zur totalen Erschöpfung faszinieren mich. Ich bin bereit, mich bis zum Äussersten zu quälen.» Ihr Motto? «Wenn es hart wird, darf man nicht aufhören. Das ist im Rudern nicht anders als im sonstigen Leben.»
Ein kleines Ruder-Tattoo am Nacken versinnbildlicht Gmelins Leidenschaft. «Ich liess das ganz bewusst dort stechen. In der Nähe der Halsschlagader, die zu meinem Herzen führt. Rudern ist für mich viel mehr als nur ein Beruf, es ist meine Erfüllung. Ich stecke mein ganzes Herzblut hinein.»
Nicht alle mögen Muskeln
In Zahlen umgemünzt heisst dies: Wöchentlich 25 Stunden Training auf dem Wasser. Das Wort «locker» gibt es dabei nicht, jeder Ruderschlag wird mit voller Kraft durchgezogen. Auch unzählige, schweisstreibende Kraftraum-Sessions im Trockenen gehören zum Programm. Dabei kommt einer der grossen Vorteile Gmelins zum Tragen: «Ich habe die Veranlagung, schnell Muskulatur aufzubauen.»
So hilfreich das für ihr Sportlerleben auch sein mag – es gefällt nicht allen. «Es gibt auch negative Feedbacks. Nicht alle finden es schön, wenn eine Frau so viele Muskeln hat.» Aber: Gmelin stört sich nicht (mehr) an solchen Kommentaren, sie steht darüber.
Längst hat sie die Zweifel früherer Tage abgelegt. Offen sagt sie: «Es ist mir bewusst, dass mein Körper durch das Training Formen annimmt, die von der Norm abweichen. Würde ich im Büro arbeiten, sähe ich nicht so aus. Aber es lohnt sich. Ich kann mir keinen schöneren Job vorstellen!»
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Programm
Montag, 25. September
Ab 18.04 Uhr Vorläufe Skiff
Freitag, 29. September
18.05 Uhr Halbfinals Skiff
Sonntag, 1. Oktober
16.04 Uhr Final Skiff (SRF Info)
Ergebnisse
Jeannine Gmelin entscheidet den Vorlauf im leichten Frauen-Einer für sich und steht dadurch direkt in den Halbfinals. Auch Barnabé Delarze und Roman Röösli im Doppelzweier haben sich an der WM in Florida direkt für die Halbfinals vom Freitag qualifiziert.