Früher sass ich regelmässig neben Walter Scheibli. Früher, das war um die Jahrtausendwende. Er war zu dem Zeitpunkt schon längst Kult-Reporter von Radio 24, ich ein Neuling von Radio Zürisee. Trotzdem waren wir auf Augenhöhe, weil er einem nie zu verstehen gab, was Besseres zu sein.
Ich durfte damals in den Hockey-Arenen dieses Landes hautnah miterleben, wie Walti seiner Arbeit nachging. Wie er immer schon da war und längst alles installiert und getestet hatte, wenn ich jeweils etwa eine Stunde vor dem ersten Bully-Einwurf eintraf. Wie er mit fester, lauter Stimme sagte: «Zätt Ess Cee 4, Lugano 3!» Wie der dritte Rang im altehrwürdigen Hallenstadion seinen Namen skandierte, er in seinem gelben Glücks-Pulli aufstand, die Arme hob, sich feiern liess und sich nach Sekunden der Huldigung wieder setzte. Der Sonnenkönig und sein Volk.
Jetzt sitze ich zum ersten Mal seit rund 20 Jahren wieder neben ihm. In seiner Wohnung in Zürich-Unterstrass. Viel ist seitdem passiert. Im vergangenen Oktober wurde er 90. Doch zum Feiern war ihm nicht zumute, denn wenige Monate zuvor war sein einziges Kind, Walter J. Scheibli, verstorben. Und bereits an Weihnachten 2018 musste er seine geliebte Margrit, mit der er seit 1957 verheiratet war, gehen lassen. Ein Gespräch mit ihm ist wie das Leben: mal lustig, mal traurig. Und ein ständiges Hin und Her zwischen früher und heute.
«Wenn ich dorthin schaue, werde ich sentimental», sagt Scheibli und zeigt auf die Fotos seiner Liebsten. Sie alle sind nicht mehr, nur sein jüngerer Bruder lebt noch. «Ich bin mittlerweile fast immer alleine», erzählt Scheibli nachdenklich, «gesundheitlich geht es mir zwar recht gut, von der Moral her könnte es aber besser sein. Wenn es abends dunkel wird, dann tauchen wieder die Gedanken an die Verstorbenen auf. Aber ich versuche trotzdem, positiv zu bleiben, schliesslich will ich ja 100 werden.»
Während er das sagt, zeigt er sein typisches spitzbübisches Lächeln. Aber leider spiele sein Gedächtnis mittlerweile regelmässig verrückt. «Früher war das meine grosse Stärke. Ich hatte ein gutes Namensgedächtnis, für das mich viele beneideten. Doch vor einiger Zeit stürzte ich und schlug mir den Kopf an der Tür an. Seitdem habe ich manchmal eine grosse Leere im Kopf und weiss plötzlich nicht mehr, was ich sagen wollte. Das ärgert mich schon, weil ich dann denke: Mensch Walti, das solltest du doch jetzt schon noch wissen.»
Er hatte sogar eigene Autogrammkarten
Ganz Optimist sieht Scheibli darin auch einen Vorteil. «Wenn ich mich jetzt mit dir unterhalte und über etwas nicht reden will, sage ich einfach, ich kann mich nicht daran erinnern. So kann ich das Gespräch in Bereiche lenken, über die ich reden möchte und in denen ich noch alles weiss.» Genau das macht das Schlitzohr Scheibli in der kommenden Stunde auch. Das klingt dann in etwa so: Walti, wer war dein Lieblingsspieler beim ZSC? Scheibli: «Ach, das weiss ich nicht mehr, aber habe ich dir schon erzählt, wie ich früher im Fussball im Goal stand?»
Bevor er aber davon erzählt, muss den Jüngeren noch das Phänomen Walter Scheibli erklärt werden. «Walter ist vielleicht der einzige Reporter, der einen grösseren Namen hat als alle Spieler», sagte einst der ZSC-Meistertrainer Kent Ruhnke.
Was auf den ersten Blick nach einer Übertreibung klingt, kommt aber der Wahrheit sehr nahe. Zwischen 1982 und 2014 arbeitete Scheibli für Radio 24. Sein Hauptaufgabengebiet war der ZSC. Es war eine Zeit, in der das Radio noch eine wichtige Informationsquelle war. Es gab noch kein Internet und keine Handys, und selbst der Teletext war da noch nicht in Betrieb. Wer also wissen wollte, wie es bei einem Spiel des ZSC stand, der musste das Radio einschalten und Scheibli zuhören.
Dadurch wurde Scheibli – gewollt oder ungewollt – zur Legende. Zu einem Radioreporter, der eigene Autogrammkarten hatte. Der in den Anfangsjahren jeweils mit dem ZSC-Bus zu den Auswärtsspielen mitfahren durfte. Der nichts davon hielt, ein neutraler Reporter zu sein, sondern hörbar mit dem ZSC mitfieberte. Der durch seine Stimme und seine Sätze unser Kopfkino in Betrieb setzte. Ist er stolz darauf? «Sagen wir es so: Ich höre das nicht ungern, aber lass uns über meine Zeit als Fussballgoalie reden.»
Scheibli hatte als Jugendlicher vor allem einen Traum: Er wollte ein professioneller Fussballgoalie in Frankreich werden. Ganz geklappt hat es nicht, für die Young Fellows lief er aber in drei Nati-A-Partien auf. Und in Frankreich stand er einst für Red Star Paris in einem Testspiel im Tor. «Damals hatte man mich noch gewarnt, ich solle kein Wasser aus der Röhre trinken. Doch nach einem Training hatte ich so Durst, dass ich unter der Dusche trank. Ich habe mir so prompt Typhus eingefangen und landete im Spital.»
Dank Schawinski wurde er zur Reporter-Legende
Scheiblis zweite grosse Liebe war schon früh der ZSC. 1938 nahm ihn sein Vater erstmals zu einem Spiel auf den Dolder mit. «Das hat mir gefallen. Wir standen in der ersten Reihe.» Da blitzt es wieder auf, dieses Funkeln in seinen Augen.
Neben dem Fussball machte Scheibli eine Bäckerlehre. Später arbeitete er für Nestle im Aussendienst und engagierte sich ehrenamtlich in seinem Klub, dem FC Unterstrass. Als 1966 ein Junioren-Chlausabend anstand, begann seine Geburtsstunde als Reporter. «Wir wollten damals eigentlich Jan Hiermeyer engagieren, um ein paar eingeladene Spieler des FC Zürich zu interviewen. Doch der verlangte zu viel Geld. Also schnappte ich mir das Mikrofon und sprang ein.»
Sein erster Versuch, in der Radiolandschaft Fuss zu fassen, misslang aber. Zwar arbeitete er kurz für Radio Beromünster, doch für deren Chefs war seine Art zu reisserisch. Nicht aber für Roger Schawinski, den Gründer des neuen Radio 24. «Schawi hat mich dann ins Rampenlicht gestellt und gefördert.» Es war der Startschuss für eine einzigartige Karriere.
«Ich will nicht über den Tod sprechen»
Das viele Reden hat Scheibli müde gemacht. Nach einer Stunde Gespräch spielt ihm sein Gedächtnis immer öfters einen Streich. Wir reden noch einmal über seine verstorbene Margrit. Scheibli schwärmt von seiner Ehe, die 2018 so jäh zu Ende ging. «Wir hatten in über 60 Ehejahren nicht einmal einen richtigen Streit. Sie war eine wunderbare Frau.»
Nur bei einem Thema gab es zwischen den Scheiblis gelegentlich Meinungsverschiedenheiten. «Du verdrängst jeden Gedanken an den Tod», sagte sie ihm jeweils. Und wie sieht es heute aus? «Das ist noch immer so. Ich will nicht über den Tod sprechen, weil er das Ende des Lebens ist, und ich lebe noch immer gerne, auch wenn ich meine Frau und meinen Sohn sehr vermisse.»
Sein grosser Wunsch: Er möchte 100 werden, so wie einst seine Mutter Martha. «Sie hat ihren 100. Geburtstag noch bei sich zu Hause gefeiert. Danach kam sie ins Altersheim. Dort hat es ihr aber gar nicht gefallen, und sie ist nach ein paar Monaten gestorben.» Auch Walti lebt noch immer in den eigenen vier Wänden, seit 66 Jahren an der gleichen Adresse. «Ich will nicht ins Pflegeheim, ich möchte hier bleiben», sagt er mit resoluter Stimme.
Auch seiner Zweitwohnung hat er stets die Treue gehalten: dem Zürcher Hallenstadion. Doch seit dieser Saison spielen die ZSC Lions bekanntlich in der neuen Swiss Life Arena. «Das neue Stadion gefällt mir gut. Beim letzten Besuch habe ich übrigens festgestellt, dass mein Bekanntheitsgrad noch immer sehr hoch ist.»
Dann beugt er sich zu mir rüber, legt eine Hand auf meinen Arm und flüstert mit leiser Stimme. «Das macht mich schon ein bisschen stolz. Aber bitte nicht weitersagen.» Dann wird seine Stimme wieder lauter. «Aber genug darüber, lass uns über meine Zeit als Fussballgoalie reden.»