Bronze-Schützin Heidi Diethelm Gerber
«Ich bin auch eine gute Schauspielerin»

Sie schrieb das Schweizer Sport-Märchen 2016. Heidi Diethelm Gerber holte als 47-Jährige in Rio Bronze. Die Schützin über ihr Äusseres und was in ihrem Inneren abgeht.
Publiziert: 25.12.2016 um 20:53 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 01:11 Uhr
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Heidi Diethelm Gerber: «Ich habe mittlerweile meinen eigenen Weg gefunden.»
Foto: Kilian J. Kessler
Daniel Leu

Frau Diethelm Gerber, wer bei Google «Heidi» eingibt, dem schlägt die Suchmaschine als erstes «HeidiDiethelm» und als zweites «Heidi Klum» vor. Wären Sie manchmal gerne Heidi Klum?
Heidi Diethelm Gerber:(lacht) Nein, auf keinen Fall. Ich bin ich!

Sie haben nach Rio selbstkritisch über Ihr Äusseres geredet und gesagt, Sie würden manchmal gerne anders rüberkommen.
Man muss ehrlich zu sich selbst sein. Wenn ich mich mit all den Sportmodels vergleiche, denke ich manchmal schon: Es wäre schön, wenn ich auch ein bisschen so aussehen würde und wenn ich das eine oder andere Kilo weniger hätte. Da gibt es nichts schönzureden. Doch mir ging es stets darum, im Schiessen etwas zu erreichen und zu zeigen, dass ich ein Profi bin.

Sich so akzeptieren, wie man ist – wie schwer fällt das Ihnen?
Weniger schwer als früher. Damals habe ich mich eher mal mit den 20 Jahre jüngeren Athletinnen verglichen. Doch mittlerweile habe ich meinen eigenen Weg gefunden. Ich bin so zufrieden, wie ich bin und muss mich für mein Aussehen bei niemandem entschuldigen. Was mir wichtig ist: Man muss mit sich im Reinen sein, sonst holt einem das im Wettkampf wieder ein und man hat keinen Erfolg. In Rio habe ich gezeigt, dass ich das kann. Ich habe für mich alles richtig gemacht.

Gäbe es diese Diskussionen über Ihr Aussehen, aber auch über Ihr Alter von 47 Jahren, bei einem Mann auch?
Ich glaube nicht. In meinem Fall wurde wohl viel darüber geredet, weil ich einfach nicht dem Idealbild entspreche, das «Mann» von einer Sportlerin hat. Unsere Gesellschaft tickt einfach so. Das kann man nicht ändern.

Stört Sie diese Diskussion?
Nein. Ich habe kein Problem damit, offen darüber zu reden und zu meinen Schwächen zu stehen.

Ihre Lebensgeschichte ist speziell. Sie haben einen erwachsenen Sohn und hielten mit 32 Jahren erstmals eine Sportpistole in den Händen. Erst 2014 wurden Sie Profi-Sportlerin. Wie sah Ihr Leben vorher aus?
Es war sehr anstrengend. Ich stand oft um 4.30 Uhr auf und trainierte eineinhalb Stunden. Dann ging ich zur Arbeit. Über Mittag in den Schiesskeller. Nachmittags wieder zur Arbeit. Abends wieder zum Schiessen. Dazu hatte ich ja noch ein Kind im Schulalter.

Wie sehr kamen Sie dabei an Ihre Grenzen?
Ich wollte alles perfekt machen. Doch sowohl die Arbeit als auch den Sport perfekt zu machen, ging nicht. Dadurch kam ich in ein Ungleichgewicht.

Sind Sie mit dieser Lebensgeschichte auch ein Vorbild für Frauen, die sich mit Mitte 40 die Sinnfrage stellen?
Ich weiss nicht, ob ich ein Vorbild bin. Vielleicht ist mein Weg aber ein Ansporn für manche Frauen. Es muss nicht immer alles perfekt sein, um etwas erreichen zu können. Wenn sich die Frauen dank mir ermuntert fühlen, etwas zu riskieren, würde mich das glücklich machen.

Was gibt Ihnen das Schiessen?
Vor allem sehr viel Ruhe. Man muss das Impulsive, das in jedem steckt, kontrollieren können. Diese Abgeklärtheit zu erlangen, ist spannend aber auch schwierig.

Wie schafft man es, die Emotionen zu kontrollieren?
Dahinter steckt jahrelange Arbeit. Auch mit einem Mentaltrainer. Wenn man mit dem Schiessen anfängt, ist man oft nicht sehr lieb zu sich und verwendet sich selbst gegenüber harte Worte. Ich musste lernen, dass mich das zu sehr ablenkt und mich im Schiesssport nicht weiterbringt. Ich muss mit mir in Harmonie leben und viele Selbstgespräche führen.

Haben Sie ein Beispiel für solche Selbstgespräche?
Ich habe einen Sportreporter in mir drin, der ständig alles kommentiert und der den Erfolg gefährden kann, wenn ich mich von ihm ablenken lasse.

Und wie verhindern Sie das?
Ich muss mit diesem Sportreporter gut auskommen. Es ist eine Art Rollenspiel. Manchmal gehe ich mit ihm einfach einen Kaffee trinken und sage ihm: Du gehst jetzt, und ich mache meinen Job. Das alles hat sehr viel mit Vertrauen zu tun. Wenn wir das vertonen könnten, was in mir abgeht, gäbe das eine interessante, witzige Sache.

Macht diese mentale Arbeit für Sie auch den Reiz des Schiessens aus?
Ja, denn das hat einen unglaublichen Einfluss auf den Erfolg. Wie und was denkt man während eines Wettkampfes? Wie verhält man sich auch äusserlich? Dazu braucht es auch schauspielerische Fähigkeiten. Man darf gegen aussen nicht zeigen, wie man sich innerlich am Schiessstand fühlt. Selbst wenn ich innerlich koche und es mir miserabel läuft, würden Sie das von aussen betrachtet kaum erkennen. Ich bin also auch eine gute Schauspielerin (lacht).

In Rio ist Ihnen das offenbar perfekt gelungen. Welche Erinnerungen haben Sie noch an den Final?
Fast keine. Was ich gefühlt und gedacht habe, weiss ich bis heute noch nicht.

Wie erklären Sie sich das?
Offenbar war ich wirklich in diesem oft genannten Flow und konnte eintauchen. Was aussenrum war, habe ich nicht wahrgenommen. Man hat mir auch gesagt, dass es in der Halle sehr laut gewesen sei. Ich weiss davon nichts. Wahrscheinlich war das genau der Weg zum Erfolg.

Und wenn Sie den Final am TV anschauen, was empfinden Sie dabei?
Ich sehe sehr ruhig aus. Als ich Bronze geholt habe, sieht man ein kleines Schmunzeln.

Nach der Olympia-Medaille ist unglaublich viel auf Sie eingeprasselt. Was für Reaktionen haben Sie erhalten?
Sehr viele und fast ausschliesslich nur positive. Die Leute haben offenbar wirklich vor dem Fernseher mit mir mitgefiebert und sich für mich gefreut. Es war ja die erste Schweizer Medaille in Rio und die erste für eine Schweizer Schützin überhaupt.

Werden Sie auf der Strasse oft angesprochen?
Viele sagen mir: Herzliche Gratulation zum Olympiasieg. Ich muss sie immer korrigieren und sagen, ich hätte «bloss» Bronze geholt. Meist sagen sie mir dann: «Das spielt doch keine Rolle, für mich war es wie Gold.» Und ja, das stimmt. Auch für mich hat es sich wie Gold angefühlt.

Mittlerweile sind über vier Monate vergangen. Was haben Sie in der Zeit über sich selbst gelernt?
Ich bin mir näher gekommen und kann mehr zu meiner Lebensgeschichte stehen. Ich muss mich nicht verstecken oder jemandem Rechenschaft ablegen. Deshalb habe ich je länger Rio zurück liegt, desto mehr Freude. Ich habe einen Weg hingelegt und gezeigt, dass man aus eigener Initiative raus etwas erreichen kann.

Seit Rio sind Sie eine öffentliche Person. Sehnen Sie sich manchmal nach Ihrem alten Leben zurück?
Nein, ich finde es sehr spannend, was ich seitdem erleben und wen ich alles treffen durfte. Das Ausmass des Rummels hat aber auch mich erstaunt. Doch ich will auch diese Phase meines Lebens bewusst erleben. Deshalb wollte ich auch niemanden herbeiziehen, der all die Anfragen koordiniert.

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