Damit war nicht zu rechnen. Pünktlich zum Schulbeginn in den Kantonen sorgt ein 22-jähriger Appenzeller dafür, dass in der Schweiz mit ungeahnter Begeisterung addiert und subtrahiert wird: Simon Ehammers Punktejagd im EM-Zehnkampf hält spätestens am Dienstag die Sport-Nation in Atem.
Plötzlich ertappt sich der geneigte Anhänger vor dem TV, wie er im Kopf überschlägt: Was ist möglich, wenn Ehammer im Stabhochsprung die 5,20 m überspringt und 972 statt 941 Zähler einsackt? Wie weit muss er am Dienstagabend den Speer schleudern, um die Distanz auf Niklas Kaul gross genug zu halten und im 1500er eine Chance zu haben, an der Spitze des Klassements zu bleiben und Gold zu holen?
Wie er das macht? Indem er alles andere als kühl und berechnend unterwegs ist. Ehammer ist ein sensationeller Athlet, ein unfassbarer Wettkampftyp und dazu einer, der die Gabe besitzt, auch in der grössten Drucksituation seiner sportlichen Karriere in aller Seelenruhe ein Interview zu geben, das frei von Floskeln und erst noch unterhaltsam ist. Allein deshalb hat er sich Edelmetall mehr als verdient.
Und selbst wenn es am Ende nicht aufgegangen wäre: Mit dem Kampf, Schalk und der sportlichen Klasse, die er im Münchner Olympiastadion bewiesen hat, hat er die Herzen der Sport-Schweiz in den letzten zwei Tagen so oder so erobert. Die der kantonalen Bildungsdirektoren, der ETH und der Administratoren des Pisa-Tests vermutlich auch. Schliesslich ist Ehammer der lebende Beweis: Mathe kann Spass machen. Ein Land holt begeistert die Taschenrechner raus – das ist wahrlich grosser Sport.