Die Vorwürfe wiegen schwer. Mary Cain berichtet in der «New York Times» von ihrer Leidenszeit in der Obhut von Sportartikel-Gigant Nike. Glaubt man ihrer Schilderungen, muss das sogenannte Nike Oregon Projekt (NOP) schon fast einem Folter-Camp geglichen haben.
«Ich schloss mich Nike an, um die beste weibliche Athletin aller Zeiten zu werden. Stattdessen wurde ich geistig und körperlich von dem System misshandelt, das Alberto (Salazar) entworfen und Nike gebilligt hat», erzählt die 23-Jährige.
Salazar war Chefcoach und Gründer des NOP. Am 10. Oktober wurde er wegen Verstössen gegen die Antidopingregeln vier Jahre gesperrt. Das Projekt wurde daraufhin eingestellt.
Zum Abnehmen gezwungen und gedemütigt
Cain stiegt einst als grosses US-Talent in Oregon ein. Man habe sie gedrängt, Gewicht zu verlieren. Immer mehr. Immer weiter. Salazar habe ihr ein Ziel von knapp 52 Kilogramm angegeben – bei einer Grösse von 1,70 Meter.
Dann folgen die seelischen Qualen an. Regelmässig soll Cain vor den Teamkollegen gewogen worden sein. Wenn ihr Gewicht über dem Ziel lag, sei sie vor versammelter Truppe gedemütigt worden.
Cain entwickelt Suizidgedanken
Auch sei sie gefordert worden, systematisch Antibabypillen und Diuretika einzunehmen, um das vermehrte Ausschwemmen von Urin zu fördern. Die Folgen von Magerwahn und Pillen: Cain bleibt ganze drei Jahre ohne Periode, fünf Knochen bricht sie sich, weil sie porös werden.
«Ich hatte Angst, fühlte mich einsam und gefangen», so Cain. «Ich entwickelte Suizidgedanken.» Das sei so weit gegangen, dass sie sich selbst Verletzungen zugefügt habe.
Das fällt zwar auf im NOP. Doch es unternimmt niemand was. «Ich war in einem System gefangen, das von Männern für Männer konzipiert war. Es zerstört die Körper junger Frauen.»
«Ich weiss, was ich sehe: Ihr Hintern ist zu gross.»
Die Vorwürfe von Cain werden durch Steve Magness bestätigt. Er war einst Assistenztrainer von Salazar. Eine seiner Aufgaben: Die Athletinnen systematisch zum Abnehmen zu drängen.
Wenn er mit Daten auf bedenkliche Werte hingewiesen habe, habe man ihm gesagt: «Ich interessiere mich nicht für Wissenschaft. Ich weiss, was ich sehe: Ihr Hintern ist zu gross.»
Auch Nike hat auf den erschütternden Bericht reagiert. In einem Statement heisst es: «Das sind zutiefst beunruhigende Anschuldigungen.» Man habe aber vorher weder von Mary noch ihren Eltern derartiges gehört. Der Konzern kündigt eine umgehende Prüfung des Sachverhalts an. (sme)