Am Tag, als der schamlose Schurke aufflog und ins Fegefeuer des Teufels stürzte, rief er seine Mutter Gloria an. «Es ist keiner gestorben», versuchte er sie zu trösten. Keiner, nur er. Ben Johnson war tot.
Die Sportwelt, die ihn noch tags zuvor angehimmelt hatte wie einen Gott, spuckte ihn aus wie einen verfaulten Zahn. Der schnellste Mensch der Welt war vom Himmel direkt in die Hölle gerannt, zu Fuss, in nur drei Tagen.
Am Montag wird der skandalöseste Wettlauf der Weltgeschichte dreissig, und für die einen war Ben Johnson ein betrügerischer Strolch – für die anderen dagegen eher eine arme Sau, die man geschlachtet hat, weil sie sich hat erwischen lassen.
Kampf gegen Erzfeind Carl Lewis
Seoul, 24. September 1988. Der 100-Meter-Final der Olympischen Spiele ist der Kampf der Giganten: Ben Johnson, der Weltmeister und Weltrekordler, trifft auf seinen Erzfeind Carl Lewis – und die Menschheit fiebert dem Duell entgegen wie den Jahrhundertschlachten von Muhammad Ali gegen Joe Frazier und George Foreman.
Auch Big Ben gegen Carl den Grossen ist grosser Zirkus. Kurz zuvor, beim Meeting im Zürcher Letzigrund, haben die Veranstalter noch einen 200'000-Dollar-Gladiatorenkampf aus beiden gemacht.
Sie sind sich nicht direkt ähnlich, der kalifornische Strahlemann mit dem ästhetischen Laufstil und dieser stotternde kanadische Kraftprotz. Johnson ist ein Mensch gewordener Muskelberg, vom Stiernacken bis zu den dicken Oberschenkeln, die er kaum noch ungeschabt aneinander vorbeibringt.
9,79 Sekunden – unfassbar
Startschuss in Seoul. Der Muskelberg explodiert. Mit einem beidbeinigen Sprung schiesst er aus dem Block, legt los, trommelt mit 49 Schritten ins Ziel – und ungläubig starrt Lewis hinter ihm her. 9,79 Sekunden. Unfassbar. Bei der Siegerehrung gratuliert der Amerikaner mit steinernem Blick. «Der Sport», schimpfte Lewis schon vorher, «ist unmoralisch geworden.»
Johnson sah jedenfalls früher anders aus. Ein Hänfling war er, als er mit der Mutter und sechs Geschwistern die ärmlichen Verhältnisse in Jamaica hinter sich liess und nach Kanada zog – noch damals, mit 15, sah er aus wie 12 und wog nur 48 Kilo. Und nun das. Der König auf dem Olymp. Am Telefon gratuliert ihm Kanadas Premier Brian Mulroney: «Ottawa steht Kopf. Danke, Ben.»
Nach dem Rennen geht Big Ben zur Dopingkontrolle. Bis er kann, dauert es zwei Stunden und acht Dosen Bier. Sorglos habe er ausgeschaut, sagen Augenzeugen. Später wird Johnson erzählen, dass er schon jahrelang dopte («Alle dopen, du tust also nichts Böses»), die Steroide aber sechs Wochen vor Seoul abgesetzt hatte. Zwei Tage lang fühlt sich der naive Junge mit den Kulleraugen als König. Dann platzt die Bombe.
Johnson flieht nach Toronto
Am 27. September 1988, nachts um 1.45 Uhr, gibt das IOC-Dopinglabor bekannt: Johnson war vollgepumpt mit Stanozol. Er verliert alle Titel, seine Weltrekorde und die Goldmedaille. Während sie bei einer hastig anberaumten Zweitzeremonie Carl Lewis umgehängt wird, wird Johnson wie ein verlauster Hund vom Hof gejagt, in eine Maschine der Korean Airlines gesetzt und flieht heim nach Toronto – vor der Schande.
Sein Leben als Ausgestossener ist mühsam. Kläglich scheitert sein Comeback, 1993 wird er nochmal erwischt und lebenslänglich gesperrt. Was folgt, nennt er seine «Reise durch die Hölle». In einer Freak-Show tritt er gegen Schildkröten an, man kettet ihm dabei schwere Gewichte an die Füsse.
Eine Zeitlang beschäftigt ihn Al-Saadi Ghaddafi, der fussballspielende Sohn des libyschen Staatschefs, als Privattrainer, zusammen mit Diego Maradona, einem anderen grossen Dopingsünder. «Auch Ben», sagt der Argentinier, «wurde Opfer übler Machenschaften.»
War alles eine Verschwörung?
«Sabotage!», hatte Johnsons Manager Larry Heidebrecht schon in Seoul `88 getobt, und vor fünf Jahren sah es auch Johnson so – damals berichtete der Autor Richard Moore in seinem Buch «Das schmutzigste Rennen der Geschichte» über eine mysteriöse Gestalt, mit der sich Johnson beim Biertrinken im Dopingkontrollraum das Warten verkürzte.
Johnson kannte diesen Andre «Action» Jackson. Er hatte nach dem Letzigrund-Meeting anno 1986 das Züricher Nachtleben mit ihm erkundet. Aber vor allem, enthüllte Moore, war Jackson ein enger Bekannter von Carl Lewis.
Passend dazu erzählte Ben Johnson plötzlich von Stanozol-Tabletten, die während des Wartens auf die Dopingprobe bei seinem Gespräch mit Jackson in sein Bier gefallen sein müssen.
Lewis hatte verdammt viel Glück
Als sicher gilt bis heute nur eines: Dass Johnson in jenem fürchterlichen Finale nicht der einzige Bösewicht war. Sechs der acht Starter wurden irgendwann als Doper überführt – und Carl Lewis hatte verdammt viel Glück, dass die bei den US-Ausscheidungen kurz vor Seoul bei ihm festgestellten Substanzen als «unabsichtlich» bewertet und auf fragwürdige Art verworfen wurden. Mit neun Goldmedaillen wurde er einer der grössten Athleten aller Zeiten.
Ben Johnson dagegen wurde verbannt und verdammt. War er womöglich am Ende erleichtert? Sein Trainer klopfte damals an seine Hoteltür, und überliefert ist der folgende Dialog. «Du bist positiv getestet», sagte Charlie Francis. Unbewegt schaute ihn Ben Johnson an: «So they finally got me?»
Haben sie mich doch noch erwischt?