BLICK: Sarah Atcho, Sie starten am Wochenende mit der Schweizer 4x400-Meter-Staffel in Yokohama. Was liegt drin?
Sarah Atcho: Es ist unser erster Wettkampf auf diesem Niveau. Das heisst, wir müssen Erfahrungen sammeln. Über 4x100 Meter haben wir die schon, jetzt brauchen wir sie auch über 4x400 Meter. Aber wir wollen nicht nur zuschauen, wir wollen etwas zeigen. Mit einem Top-Ten-Ergebnis wären wir an der WM in Doha dabei. Und warum sollen wir uns nicht für den Final qualifizieren?
Die Saison beginnt am Wochenende, die WM ist erst im Oktober. Es wird ein langes Jahr.
Allerdings. Wir müssen jetzt schon schnell sein, aber erst im Oktober in Top-Form. Es ist ein bisschen ein Pokerspiel. Man kann nicht zweimal in einer Saison auf Top-Level sein.
Ihre Ziele?
Wir setzen uns keine konkreten Ziele. Das war letztes Jahr ein Fehler: Wir haben das ganze Jahr davon gesprochen, bei der EM in Berlin eine Medaille holen zu wollen. Das hat für unnötigen Druck und für Enttäuschung gesorgt, obwohl wir eine
starke Zeit gelaufen sind.
Die anderen waren einfach schneller.
In den Schweizer Sprint-Staffeln starten dunkelhäutige Athletinnen mit weissen Kolleginnen. Fühlen Sie sich von den Schweizer Sportfans akzeptiert?
Zum Teil, zum Teil nicht. Über die sozialen Medien wurden wir nach unserem Staffel-Rekord beschimpft, dass unser Rekord nicht schweizerisch sei, weil drei Schwarze im Team waren. Wahnsinn, dass so was 2019 noch passiert. Aber an rassistische Kommentare haben wir uns bis zu einem gewissen Grad mittlerweile gewöhnt.
Was bekommen Sie denn zu
hören?
Ach, viel blödes Zeug. Es heisst, wir verdienten es nicht, die Schweiz zu vertreten. Kommentare aus dieser Schublade. Aber wir merken auch: Wenn wir gut sind, wird das von vielen Menschen registriert. Dann kommen die Glückwünsche, das tut gut.
Wie gehen Sie damit um, dass manche Menschen Sie wegen
Ihrer Hautfarbe als Sportlerin
ablehnen?
Früher war es für mich besonders brutal. Ich habe in der 4x100-Meter-Staffel relativ jung angefangen, war
extrem euphorisch, wir haben gute Leistungen gezeigt. Und dann bekommst du so etwas vor den Latz geknallt. Das tut weh.
Thematisieren Sie das im Team?
Ja. Aber wir machen uns über die Rassisten vor allem lustig.
Sie können über die Rassisten
lachen?
Es nützt ja nichts. Wir können es eh nicht beeinflussen. Diese Leute kritisieren uns, egal, was wir tun. Ignorieren und darüber lachen, das ist das beste Rezept. Und zeigen, was wir draufhaben. Wir wissen, was wir wert sind, wie hart wir arbeiten und wofür.
Sie sprechen über Hass im Internet. Ist Ihnen Ähnliches auch schon in der realen Welt widerfahren?
Oh ja, leider schon.
Ein Beispiel?
Ich war am Handy und bin mit dem Telefon am Ohr in den Zug eingestiegen und wollte mein Gespräch noch beenden, wie man das halt macht. Sobald ich eingestiegen war und mein Gepäck verstaut hatte, schaute mich ein Mann an und hat gemeint: «Wir sind hier nicht in Afrika! Hier wird nicht telefoniert!» So was Blödes! Ich war nicht laut, ich habe niemanden gestört.
Ihre Reaktion?
Ich habe angefangen zu weinen.
Im Zug?
Ich habe versucht, das Gesicht zu wahren, weil ich ihm die Genugtuung nicht geben wollte. Ich habe mich weggedreht, bin fünf Meter weitergegangen, dann kamen die Tränen. Wenigstens erst dann. (lacht) Ich versuche, in solchen Momenten die Fassung zu wahren. Aber manchmal ist es hart. Auch wenn es gegen Arnaud geht, meinen Freund.
Wieso denn das?
Er ist weiss, ich bin schwarz.
Da kommen manchmal Nachrichten nach dem Motto, ich sei eine Schande, Schwarz und Weiss vermischen sich nicht. So dumm!
Sie sind in der Schweiz geboren.
Ihr Vater stammt von der Elfenbeinküste, Ihre Mutter aus
Marokko. Welchen Einfluss haben die verschiedenen Kulturen auf Ihre Persönlichkeit?
Das habe ich mir gar nie überlegt. Aber ich glaube schon, dass ich mich in Marokko anders verhalte als
an der Elfenbeinküste oder hier.
Inwiefern?
In der Schweiz musst du pünktlich sein, die Dinge zügig erledigen, verlässlich und präzise sein. In Marokko kannst du zu spät kommen, dir Zeit lassen, es ist okay, alle sind entspannter. Ich finde
mich in beiden Welten zurecht, vielleicht kann ich mich darum an verschiedene Situationen besser anpassen. Das war unseren Eltern wichtig, darauf haben sie in der Erziehung geachtet.
Auf was genau?
Als sie in die Schweiz gekommen sind, haben sie sich viel Schlimmes anhören müssen. Das wollten sie uns ersparen. Sie haben uns beigebracht,
wie wir uns zu verhalten hatten, damit niemand etwas gegen uns sagen konnte. Ich bin ihnen dankbar, dass sie relativ streng waren, Wert auf Höflichkeit, Pünktlichkeit legten. Ich möchte meine Kinder auch so erziehen.
Stimmt es eigentlich, dass Ihr Grossvater 52 Kinder hat?
Ja, ich habe das mit meinem Bruder mal nachgezählt. Mein Opa hatte zwölf Ehefrauen und insgesamt 52 Kinder. Ich finde das jetzt auch eher unüblich, aber in Afrika kann man das machen. Wobei man dazu sagen muss: Ein Teil der Kinder war adoptiert. Er war ein sehr respektierter Mann, darum haben ihm manche Leute ihre Kinder anvertraut. Das ist für uns in Europa komisch, ich weiss, aber dort war es damals zumindest so. Wenn du jemanden respektiert hast, hast du ihm ein Kind geschenkt.