Martin Lauer zögert nicht eine Sekunde. «Nein», antwortet er resolut auf die Frage, ob er zufrieden auf sein Leben zurückblicke. «Mir hat das Schicksal übel mitgespielt. Da kann ich doch jetzt nicht das Gegenteil behaupten und so tun, als sei alles gut gewesen.»
Weltrekordläufer, Olympiasieger, Schlagerstar – wie kann ein solcher Mensch jetzt in seinem Wohnzimmer im mittelfränkischen Lauf an der Pegnitz bei Kaffee und Guetzli sitzen und sagen, sein Leben sei nicht gut gewesen? Weil es eben auch eine andere Seite gab: Querelen mit Funktionären, Monate im Koma, Tod seiner Freundin.
Das Leben von Lauer – eine wahre Achterbahnfahrt. Schon früh lernt der Deutsche die Schattenseiten kennen. Geboren 1937 in Köln, erlebt er den Krieg hautnah mit. «Nacht für Nacht gab es Bombardierungen. Wir flüchteten deshalb jeweils abends raus aus der Stadt ins Bergische.»
Vom Hörsaal ans Meeting
Nach dem Krieg wird aus Klein Martin ein Leichtathlet. Weil das Geld fehlt, bastelt sein Vater aus Haselnuss-Stöcken Hürden. Martin wird immer besser und erfolgreicher. 1956 darf er deshalb an die Olympischen Spiele nach Melbourne. Damals eine wahre Weltreise. Hamburg, Wien, Istanbul, Teheran, Phnom Penh, Singapur, Darwin, Melbourne. In 56 Stunden! Geschlafen wird auf dem Flugzeugboden. «Es gab ja noch keine Düsenjets. Die DC-6B musste alle 3000 Kilometer aufgetankt und die Motoren regelmässig abgekühlt werden.»
Mit an Bord hat Lauer seine Gitarre. «Es gab ja noch keine Walkmans. Wer Musik hören wollte, musste selber spielen. Auf den Flügen nach Australien unterhielt ich via Bord-Mikrofon die anderen Insassen. Ich war der singende Sportler.»
Als Vierter über 110 Meter Hürden und als Fünfter im Zehnkampf verpasst Lauer knapp eine Medaille. Doch seine Zeit sollte bald kommen.
7. Juli 1959, Tag des Leichtathletik-Meetings in Zürich. Am Morgen sitzt Lauer in München noch im Hörsaal. Sein Maschinenbaustudium ist anspruchsvoll. «Da konnte man sich keine Absenzen leisten.» Mit dem Flugzeug geht es direkt nach Zürich. Und da es einen kräftigen Wind hat, segelt er nachmittags noch auf dem See.
Letzigrund, 19 Uhr, 110 Meter Hürden. Lauer schlägt den grossen Favoriten, den Amerikaner Willie May, in der Weltrekordzeit von 13,2 Sekunden. Gleichzeitig stellt er damit auch über die 120 Yard (109,73 m) eine neue Bestmarke auf. May ist ausser sich, kann es bei der Niederlage nicht bewenden lassen. Er fordert den jungen Deutschen spontan zu einer Revanche über 200 Meter Hürden auf. Und wieder gewinnt Lauer. Und wieder in Weltrekordzeit.
Rabattgutschein als Lohn
Drei Weltrekorde in 50 Minuten. War der 7. Juli 1959 der Tag seines Lebens? «Die Bedingungen waren perfekt und die Aschenbahn gut gepflegt. Solche Glücksmomente musste man einfach nutzen.» Als Belohnung gibts für Lauer einen Gutschein mit 20 Prozent Rabatt auf eine Uhr.
Lange Zeit zum Feiern hat Lauer nicht. Am nächsten Morgen wartet bereits die nächste Vorlesung auf ihn. Leicht verspätet taucht er auf. «Ich schlich mich rein, und es hatte nur noch zuunterst auf der Treppe Platz. Quasi zu Fusse des Professors, des grossen Meisters. Er schaute mich dann an und sagte: ‹Herr Lauer, ich hoffe, dass Sie Strömungsmechanik genauso gut können wie Hürdenlaufen.›»
Bis jetzt kennt Lauers Karriere nur eine Richtung, die nach oben. Ende 1959 wird er gar zu Deutschlands Sportler des Jahres gewählt. Doch vor den Olympischen Spielen 1960 bekommt er gesundheitliche Probleme. Wegen einer Knochenhautentzündung im Fussgelenk ist an Hürden-Training nicht zu denken. Über 110 Meter Hürden wird er deshalb in Rom erneut nur Vierter.
Olympiasieger mit 23 Jahren
Dann aber kommt die Staffel. Die Amerikaner sind die grossen Favoriten, im Vorlauf aber brillieren die Deutschen mit einem Weltrekord. «Auf einmal hatten die Amis Bammel vor uns. Sie wurden immer nervöser, weil sie schlechte Wechsler waren.» Und prompt versagen ihnen im Final die Nerven: Wechselfehler! Bahn frei für Deutschland um Lauer und den legendären Armin Hary. Sieg in Weltrekordzeit. Lauer ist Olympiasieger. Mit 23 Jahren.
Zum Liebling der Massen und der Journalisten wird Lauer trotzdem nicht. «Ich war unbeliebt», sagt er heute dazu. «Das habe ich mir mit meiner Art zum Teil auch selber eingebrockt.»
Was Lauer damals am meisten stört, ist der Amateur-Paragraph, der es untersagt, mit dem Sport Geld zu verdienen. «Mit dem stand ich immer auf Kriegsfuss.» Lauer hat keine Lust mehr auf Pokale und sinnlose Geschenke. Zudem hat er kaum Geld, weil seine Eltern ihn nicht finanziell unterstützen können. «Was sollte ich mit dem 27. Pokal, der nach drei Wochen anlief, weil er nicht aus Silber war. Oder mit Decken und Flokati-Teppichen? Irgendwann hatte ich genug davon.»
Deshalb erklärt sich Lauer kurzerhand zum Münzensammler. Und fordert für den Fall eines Siegs von den Veranstaltern einen «Golden Eagle». Oder ein teures Lehrbuch. Oder ein paar neue Reifen, da er zu diesem Zeitpunkt pro Jahr 100 000 Kilometer zurücklegt.
Als der legendäre Sportfunktionär Willi Daume (damals Präsident des Deutschen Sportbundes und des Nationalen Olympischen Komitees) davon Wind bekommt, zitiert er Lauer in München in den Bayerischen Hof. Lauer kann sich noch heute an jedes Detail des Treffens erinnern. «Daume erschien mit seinem Mercedes 300 SL. Die Flügeltüren gingen auf, und der Portier nahm ihm die Aktentasche ab. Bei Canapés mit Sachen drauf, die ich vorher noch nie gesehen hatte, erklärte er mir, ich sei ein schlechtes Vorbild für die Jugend.»
Das lässt sich Lauer nicht gefallen. Er sagt Daume, er solle sich jetzt sofort sein Zuhause anschauen. «Ein kleines, muffiges Zimmer in München. Zwei Etagen über einem Soldatenpuff.» Daume lässt sich darauf nicht ein. Fühlt sich provoziert. Lässt Lauer stehen.
Wie aus Lauer ein Schlagersänger wurde
Auch sportlich läuft es Lauer nicht mehr rund. 1961 liegt er wegen einer Blutvergiftung, wohl durch eine verunreinigte Spritze ausgelöst, plötzlich im Koma. Es hat sich eine hochgradige Knochenmarksvereiterung gebildet. Lebensgefahr! Als er wieder aufwacht, denkt er: Jetzt bin ich gesund und kann in zwei Wochen wieder trainieren. Doch die Ärzte sagen ihm die bittere Wahrheit: Du wirst nie mehr professionell Sport treiben können. «Das war schrecklich», sagt er heute und kämpft mit den Tränen.
Und die Hiobsbotschaften reissen nicht ab. Nachdem seine Freundin und sein Bruder ihn im Krankenhaus besuchen, verunfallen sie auf der Rückreise schwer. Sie ist sofort tot und er stirbt Jahre später an den Folgen des Crashs.
Das Ende der Karriere, der Tod der Liebsten – Martin Lauer ist am Boden. Seine Zukunft ist in diesen Monaten 1961 unsicher. «Ich überlegte mir dann im Spital, wie ich im Liegen Geld verdienen könnte. Da dachte ich, ich könnte Lieder schreiben.»
Gesagt, getan. «Bei den Krankenschwestern hatte ich mit meinen Liedern einen Riesenerfolg. Ich textete, komponierte und sang.» Dank Beziehungen lädt ihn dann der erfolgreiche deutsche Musikproduzent Kurt Feltz ins Tonstudio ein. Mit zwei Krankenschwestern und Krücken taucht Lauer bei ihm auf.
1962 erscheint schliesslich die erste Platte mit dem Hit «Sacramento». Unter dem Pseudonym Dick Martin. «Ich wollte mir doch meinen guten Sportlernamen nicht mit lächerlichen Schlagerliedern kaputtmachen lassen.»
Die Sorge ist unbegründet. Das Lied wird ein Hit. Und keiner weiss, wer tatsächlich dahintersteckt. In der TV-Sendung «Der goldene Schuss» wird dann das Geheimnis gelüftet. «Da ich mich noch immer nicht richtig bewegen konnte, wurde einfach ein Lagerfeuer gebastelt, an das sie mich gesetzt hatten.»
Lauer hat noch Träume
Lauer, der Schlagersänger, startet in den nächsten Jahren richtig durch. Verkauft über sechs Millionen Tonträger. Singt mit Udo Jürgens und Peter Alexander. Und der Legende nach soll sogar Peter Maffay nach dem Kauf von einer Lauer-Platte zum Schlagersänger inspiriert worden sein.
Auch finanziell zahlt es sich für Lauer aus. «Ich brachte jedes Jahr eine Platte raus. Da habe ich sehr gutes Geld verdient.» Doch die gesundheitlichen Probleme bleiben. Bis heute.
Lauer erzählt mittlerweile seit über einer Stunde über sein verrücktes Leben. Das viele Reden hat den 82-Jährigen müde gemacht. Es ist der Moment, wo er sagt, dass er mit seinem Leben nicht zufrieden gewesen sei. Hat er denn wenigstens noch Träume? Nach Sekunden des Schweigens antwortet er: «Dass ich noch halbwegs vernünftig weiterleben und meiner geliebten Frau Christa noch nützlich sein kann. Das wäre schön.»
Bereits 1949 fiel im Zürcher Letzigrund der erste Weltrekord. Der US-Kugelstosser Jimmy Fuchs (u.) warf damals die Kugel auf 17,96 m. Dumm nur, dass beim Nachwägen die Messingkugel als etwas zu leicht befunden und der Rekord deshalb annulliert wurde. Fuchs’ Pech war Lauers Glück. So ging er zehn Jahre später als der Athlet in die Geschichtsbücher ein, der im Letzigrund den ersten Weltrekord aufstellte.
Bereits 1949 fiel im Zürcher Letzigrund der erste Weltrekord. Der US-Kugelstosser Jimmy Fuchs (u.) warf damals die Kugel auf 17,96 m. Dumm nur, dass beim Nachwägen die Messingkugel als etwas zu leicht befunden und der Rekord deshalb annulliert wurde. Fuchs’ Pech war Lauers Glück. So ging er zehn Jahre später als der Athlet in die Geschichtsbücher ein, der im Letzigrund den ersten Weltrekord aufstellte.