Sifan Hassan (30) Sieg am London Marathon grenzt an ein Wunder. Die Niederländerin, die normalerweise Distanzen von maximal 10'000 Metern läuft, nahm am Sonntag zum ersten Mal in ihrem Leben an einem Marathon teil. Einfach so, weil sie Lust hatte. Und obwohl sämtliche Voraussetzungen gegen sie sprachen.
Den Trainingsauftakt für die Bahn-Saison musste die dreifache Olympiamedaillengewinnerin im Januar wegen einer Lebensmittelvergiftung abbrechen. Im vergangenen Monat befolgte die gebürtige Äthiopierin die Regeln des Ramadans. Das heisst: Von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang gibts weder zu Essen noch zu trinken. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen, verletzte sich Hassan 10 Tage vor London am Oberschenkel.
«Warum habe ich mich bloss angemeldet?»
Das alles schrie förmlich nach Rückzug. Aber Hassan denkt anders. Ihre grösste Sorge vor dem 42-Kilometer-Lauf galt nicht ihrem geschundenen Körper. Sondern dass sie nicht wusste, wie man in vollem Lauftempo einen Becher schnappt und rennend trinkt. Denn während des Ramadans konnte sie das nicht üben.
Am Morgen vor dem London Marathon war die Weltmeisterin über 1500 und 10'000 Meter derart nervös, dass sie in ihrer typisch chaotischen Art vergass, den verletzten Oberschenkel zu tapen. «Ich hatte richtig Schiss vor dem Start, musste weinen und mich übergeben. Immer wieder fragte ich mich – warum zur Hölle hast du dich für einen Marathon angemeldet?!»
Sprint nach 42 Kilometern
Der Lauf selbst wird für Hassan tatsächlich zur Tortur. Noch vor Kilometer 20 hält sie zweimal an, um den schmerzenden Oberschenkel zu stretchen. Sie muss die Spitzengruppe ziehen lassen. Jede andere Athletin hätte an dieser Stelle Vernunft walten lassen und aufgegeben.
Aber Sifan Hassan ist eben nicht jede andere Athletin. Die Niederländerin zieht das Tempo an, holt die Spitze wieder ein. Die letzte Trinkstation verpasst sie fast, weil sie beinahe von einem Begleitmotorrad angefahren wird. Auf den letzten 200 Meter dann das Meisterstück. Als wäre sie nicht eben 42 Kilometer gerannt, zieht sie im Sprint davon und überquert nach 2:18:37 Stunden als Erste die Ziellinie des London Marathons. Sifan Hassan hat das Wort unmöglich neu definiert.