Alex Wilson, wie schmeckt und tönt Jamaika?
Alex Wilson: Jamaika schmeckt grün, einfach herrlich. Und tönt nach Fröhlichkeit, Lachen, Menschlichkeit, Reggae, Chaos und Korruption.
Und die Schweiz?
Auch grün. Nach Natur, Bergen und Wald.
Sie verbrachten die ersten 15 Jahre in Jamaika. Wie lebten Sie?
Ganz einfach und bescheiden, nicht so luxuriös wie in der Schweiz. Mit 13 hatte ich nicht einmal richtige Schuhe. Doch wir waren glücklich. Geld war damals kein Thema. Wir brauchten nicht viel. Solange wir Essen, eine Hose und ein T-Shirt hatten, war alles gut. Es ist nicht wie hier, wo es heisst: Immer mehr und mehr und mehr.
Sie kennen Ihren eigenen Vater nicht. Vermissen Sie ihn manchmal?
Ich weiss gar nicht, wie es sich anfühlt, einen Vater zu haben. Deshalb kann ich ihn auch gar nicht vermissen. Um dieses Thema kümmere ich mich nicht. Andere würden das als Ausrede herbeiziehen, wenn es ihnen selbst im Leben nicht laufen würde. Ich bin anders. Ich hatte und habe eine starke Mutter. Das reicht.
Welche Träume hatten Sie als Kind?
Ich wollte Soldat werden, um der Korruption in Jamaika entgegenzutreten. Diesen Traum habe ich mir ja später in der Schweiz mit der Sportler-RS erfüllt.
Als Sie sieben Jahre alt waren, zog Ihre Mutter mit ihrem neuen Schweizer Mann und Ihren Halbgeschwistern in die Schweiz. Sie blieben in Jamaika bei Ihrer Tante zurück.
Das war richtig streng. Zusammen mit meinen beiden älteren Cousins haben wir viel «Seich» gemacht, doch meine Tante hat keine Ruhe gegeben. Wir durften nie das Haus verlassen, ohne dass das Bett oder die Hausaufgaben gemacht waren. Manchmal bekamen wir auch richtig eins auf den Deckel. Ich musste dann jeweils sogar den eigenen Stock aussuchen, mit dem ich von meiner Tante geschlagen wurde. Da ich dumm war, suchte ich mir zuerst immer kleine aus, doch die «fitzten» am meisten. Irgendwann merkte ich das und suchte mir fortan grössere Stöcke aus.
Das klingt nach einer harten Jugend.
Nein, ich sehe das nicht so. Das war eine andere Zeit und eine andere Kultur. Ich bin dadurch stärker geworden und dadurch heute der, der ich bin.
Mit 15 kamen Sie zu Ihrer Mutter in die Schweiz. Freuten Sie sich darauf?
Ich dachte zu diesem Zeitpunkt, wir würden bloss ein paar Wochen Ferien in der Schweiz machen. Dass es für immer sein sollte, ahnte ich nicht. Ich hatte damals Vorfreude auf etwas Neues. Endlich mal weg. Ich sagte meinen Kollegen, ich käme bald wieder.
Wie waren die ersten Wochen in der Schweiz?
Sehr kalt und sehr dunkel, da ich im Dezember ankam. Es hatte sehr viel Schnee, den ich zuvor ja nicht kannte. Ich kann mich noch erinnern, dass mir wegen des Schnees eine Hand einfror. Ich hielt diese dann zum Aufwärmen dummerweise unter sehr heisses Wasser. Deswegen schmerzt mir noch heute die Hand, wenn ich sie unter heisses Wasser halte.
Waren Sie in Jamaika eigentlich schon Leichtathlet?
Nicht so richtig, aber in Jamaika ist jeder irgendwie ein Leichtathlet. Ob du willst oder nicht. In der Schweiz lernte ich dann Chrigel (Christian Oberer, Wilsons erster Trainer, Anm. d. Red.) kennen. Er sagte mir: «Du bist gut, im Sport kannst du es schaffen.»
Hat Sie die Leichtathletik gerettet?
Nein, ich war immer ein glücklicher Mensch. Und wäre es wohl heute auch ohne die Leichtathletik.
Nach der Schule machten Sie ein Jahr lang in der Migros ein Praktikum. Sie sollen auch dort erfolgreich gewesen sein ...Ja, in der Sportabteilung habe ich so viele Schlitten an den Mann und die Frau gebracht, bis sie ausverkauft waren. Und auch in der Schuhabteilung lief es gut.
Was war Ihr Erfolgsgeheimnis?
Ich kann die Leute überzeugen. Und ich habe gute Menschenkenntnisse. Ich habe immer gleich gewusst, ob eine Person einen Schuh kaufen wird oder nicht. Ich spüre so etwas.
Danach machten Sie eine Lehre als Gärtner.
Seit ich klein war, habe ich immer gerne Sachen angepflanzt. Ich habe noch heute den schönsten Garten, den es gibt. Das Coole am Gärtnern: Du siehst das Resultat deiner Arbeit. Das liebe ich. Ich pflanze einen schönen Kürbis an, und später siehst du das Ergebnis auf deinem Teller. Einfach wunderbar!
Sie sind bekannt für Ihr Selbstbewusstsein und Ihre Sprüche. Waren Sie schon immer ein «Schnurri»?
Ich mag dieses Wort «Schnurri» nicht so gerne, es klingt zu negativ. Ich bin einfach ein positiver, direkter Mensch. Ich bin kein «Fake». Wenn ich etwas will, kriege ich es. Ich bin dann so davon überzeugt und versuche dem Gegenüber keine Möglichkeit zu geben, Nein zu sagen.
Lassen Sie nie den Kopf hängen?
Nie, nie, nie. Ich werde meinen Kopf nie irgendwo rausziehen müssen. Wenn einer eine Türe schliesst, wird eine andere aufgehen. Erhalte ich etwas nicht, erhalte ich es von jemand anderem.
Wird Ihnen Ihre Ehrlichkeit manchmal auch zum Verhängnis?
Ich versuche das zu vermeiden. Deshalb möchte ich in Interviews über gewisse Themen auch nicht reden. Würde ich zu manchem meine Meinung sagen, gäbe das Ärger. Die Alternative wäre es, den Journalisten anzulügen. Doch das will ich auch nicht. Deshalb sage ich dann einfach lieber nichts.
Haben Sie auch nie an Ihrer Karriere gezweifelt? Sie hatten jahrelang wenig Erfolg und viele Verletzungen.
Nein, ich war damals wie ein Haus, das auf Sand gebaut war. Wenn das Wasser kommt, ist alles weg. Mein Problem: Ich wurde zu schnell zu gut, hatte aber keine Basics. Irgendwann habe ich realisiert, dass die Verletzungen kein Zufall sind. Dann habe ich wieder an den Basics gearbeitet und so die Leichtathletik neu kennengelernt. Selbst als ich Olympia in Brasilien verpasst habe, dachte ich nicht eine Sekunde an Rücktritt.
Seit 2016 trainieren Sie regelmässig in London. Ihr Trainer hat damals zu Ihnen gesagt: «Du bist zu dick.» Hatte er recht?
Ja, er sagte mir: Jedes Kilo macht einen Zehntel aus. Seitdem ich abgenommen habe, bin ich schneller.