Es fällt sofort auf, dieses Leuchten in den Augen und dieses spitzbübische Lächeln. Gestatten, Karl Volkmer, geboren am 20. März 1922. Teilnehmer an den Olympischen Spielen 1948 in London, über 800 Meter und mit der Schweizer 400-Meter-Staffel.
Wer sich mit Volkmer zum Gespräch trifft, braucht vor allem Geduld. Viel Geduld. Stundenlang erzählt er in seinem breiten Basler Dialekt aus seinem 100-jährigen Leben. Seine Gedanken sind klar, die Aussagen wohlüberlegt. Ihn dabei zu unterbrechen? Ein Ding der Unmöglichkeit. Und das liegt nicht nur daran, dass er nicht mehr so gut hört, sondern auch daran, dass er bestimmt, über was geredet wird.
Wie hat er den Zweiten Weltkrieg erlebt? Was denkt er über den aktuellen Ukraine-Krieg? Wie sieht er mit all seiner Lebenserfahrung den Zustand der Gesellschaft im Jahr 2022? Fragen hätte es viele gegeben, stellen konnte man ihm davon im rund dreistündigen Treffen nur ein paar wenige.
Er war auch Fussballer beim FC Basel
Karl Volkmer kommt 1922 in Basel zur Welt. Schon während der Schulzeit nennen ihn seine Freunde Nurmi, in Anlehnung an den legendären finnischen Wunderläufer Paavo Nurmi. «Ich wusste damals aber gar nicht, wer das war», erzählt er heute, rund 90 Jahre später, und schon funkeln sie wieder, seine Augen.
Der Teenager ist ein Multitalent. Er spielt Fussball beim FC Basel («bis mein Knie kaputt war. Damals konnte man das noch nicht operieren»), Feldhandball in Allschwil («damals spielte man noch auf Feldern, die so gross wie beim Fussball waren») und Eishockey («während meiner Lehre als Maschinenzeichner»).
Seine grosse Liebe aber ist die Leichtathletik. Als vor den Olympischen Spielen 1936 im Nazi-Berlin auf der Basler Schützenmatte die Schweizer Ausscheidungswettkämpfe stattfinden, lässt sich das der 14-Jährige nicht entgehen. «Da ich kein Geld hatte, stellte ich das Velo an den Bretterhag und kletterte rauf. So durfte ich Paul Hänni bewundern, der danach in Berlin die 100 Meter in 10,4 Sekunden lief.»
Um 1940 kommt Volkmer zu den Old Boys Basel. Dort gibt es eine der ersten Aschenbahnen der Schweiz. «Wir hatten jeweils ein Schüfeli, mit dem wir ein kleines Griebli machten, damit wir beim Start einen guten Halt hatten.» Das Gute an der Schützenmatte: Dort gibt es bereits warmes Wasser. «Das hatten wir zu Hause nicht. Deshalb habe ich mich immer gefreut, wenn ich nach den Läufen warm duschen konnte.»
Weil Volkmer zu der Zeit ein «Spargel» ist, bekommt er eines Tages von OB sechs Büchsen Biomalt geschenkt. «Damit ich ein bisschen dicker werde. Das war sehr speziell, denn während des Kriegs war ja vieles rationiert.»
Nur die Gicht nervt
Krieg. Vieles rationiert. Die Chance, die erste Frage zu stellen: Herr Volkmer, wie haben Sie den Zweiten Weltkrieg erlebt? «Jetzt nicht, wir kommen ja erst ins Jahr 1942. Rita, hol mir mal mein Dossier», sagt er bestimmt. Rita ist seine Tochter. Und das Dossier, es ist sein Schatz. Darin hat er mit schwarzer Tinte alles fein säuberlich eingetragen. Jedes Training und jeder Wettkampf, an dem er zwischen 1942 und 1952 teilgenommen hat, stehen hier drin. Mit seiner Laufzeit, seiner Rangierung und wichtigen Bemerkungen. Und bei den Schweizer Meisterschaften hat er jeweils mit Farbstiften die Fahne gezeichnet.
«1942 bis 1952, das sind ja elf Jahre – und nicht zehn», erklärt er zur Sicherheit. «Also 1942, da gab es auf dem Bruderholz die Armeemeisterschaft. Da schoss sich der Starter, mein Trainer Charly Leuthard, in die eigene Hand.»
In der Zeit erhält Volkmer eine Prämie für seine Lehrabschlussprüfung. Mit den 30 Franken kauft er sich ein Paar Rennschuhe. «Finnische Rennschuhe! Mit weissem Elchleder. In die schlüpfte man barfuss rein, damit man auf den Aschenbahnen ein gutes Gefühl hatte.»
Volkmer blättert eine Seite weiter in seinem Dossier. Obwohl er an den Händen Gicht hat, fällt ihm das erstaunlich leicht. Auch seine kleine Schrift kann er noch problemlos lesen. Ohne Brille! «Da, internationaler Länderkampf in Lyon. Wir fuhren mit dem Zug dorthin. Als wir ankamen, hiess es, die Deutschen hätten grad ein Geplänkel mit den Franzosen. Irgendwas war nicht gut. Deshalb wurde der Wettkampf abgesagt, und wir fuhren wieder nach Hause. Eine Stadtrundfahrt durften wir aber noch machen. Dieser doppelstöckige Viadukt war sehr schön.»
Und weiter gehts. 1943. «In den Jahren leistete ich Aktivdienst. Bei der Fliegerabwehr, Spezialkommando Schiessauswertung. Meist im Engadin. Ich ging jeweils in den sternenklaren Nächten bei minus 15 Grad rennen, auf dem Trassee der Eisenbahn. Die Bahn hatte den Schnee zwischen den Geleisen richtig festgepresst, wunderbar zum Rennen. Bei den Tobeln bin ich jeweils ein bisschen schneller gerannt, aus Angst vor Lawinen.»
Fast im Gefängnis gelandet
Thema Aktivdienst, ideal für den zweiten Versuch: Herr Volkmer, wie haben Sie den Zweiten Weltkrieg erlebt? «Moment, einmal war ich auch im Oberwallis in Reckingen stationiert. Da wir ein Nachtschiessen hatten, ging ich tagsüber auf dem Trassee rennen. Als die Bosse das gesehen hatten, musste ich bei ihnen antraben. Ich wäre fast im Gefängnis gelandet.»
1945. «René, hol mir mal den Stapel mit den Fotos!» René ist Karls Sohn. Auf dicken, schwarzen Blättern hat Karl Volkmer alle Fotos und Zeitungsartikel über ihn fein säuberlich und kerzengerade aufgeklebt. Ein Bild ist ihm besonders wichtig. Schweizer Meisterschaft in Basel. Über 800 Meter gewinnt er. Während der Siegerehrung schüttelt ihm der legendäre General Guisan die Hand. Ein Abzug davon hängt auch schön eingerahmt an der Wand.
1946. Europameisterschaft in Oslo. «Im legendären Bislett-Stadion. Da bin ich das erste Mal in meinem Leben geflogen. Auch die Russen waren am Start. Die waren richtig gut. Wohl auch, weil sie wegen des Kriegs körperlich richtig fit waren. Das waren halbe Profis, während wir Schweizer reine Amateure waren.»
Ein kurzer Blick ins Dossier, zur Sicherheit. «Mit der Staffel liefen wir ja Landesrekord. Das wusste ich gar nicht mehr.» Sagt es und freut sich auch 76 Jahre danach wie ein kleines Kind. Doch dann kommt gleich ein kleiner Dämpfer. «Ach, über 800 Meter war ich aber nicht mehr gut. Und da, Rückflug aus Oslo. Abflug 7.30 Uhr, Ankunft in Kloten 14.50 Uhr.»
Ein paar Seiten weiter vorne, die Olympischen Spiele 1948 in London. Seine Augen funkeln. «Wir waren in einer Kaserne untergebracht. Dort hatte es einen Fernseher. So ein Gerät hatte ich zuvor noch nie gesehen. Darauf haben wir uns auch die Eröffnungsfeier angeschaut.»
Zuvor musste sich die ganze Schweizer Delegation einen einheitlichen Anzug anpassen lassen. «Das waren schöne Kleider, aber bezahlen mussten wir sie selber. 200 Franken – das war viel Geld. Vor unserer Abreise wurde uns noch ein roter Trainingsanzug nach Hause geschickt. Dabei lag ein Begleitbrief. ‹Bitte nach Beendigung der Spiele gewaschen und gebügelt zurückschicken.› Ein kleines Wappen mit dem Schweizerkreuz wurde uns im Vorfeld ebenfalls zugestellt. Das hat mir meine Frau vor der Abreise nach London daheim aufs Leibchen genäht.»
Seit fünf Jahren ist er Witwer
Ein kurzer Moment der Ruhe, die Chance für Versuch Nummer 3: Herr Volkmer, wie haben Sie den Zweiten Weltkrieg erlebt? «Nicht so schnell, jetzt sind wir im Jahr 1949. Da wurde ich, glaub ich, nicht Schweizer Meister.» Er blättert um, kontrolliert. «Stimmt, das war das erste Jahr, in dem ich nicht mehr gewonnen habe.»
«Also 1950. Da habe ich in Bern wieder gewonnen. 1951 in Lugano nicht. Doch jetzt kommt 1952. Ausscheidung für die Olympischen Spiele von Helsinki in Zürich. Da waren zum ersten Mal zwei Schweizer schneller als ich. Deshalb durfte ich nicht nach Helsinki. Ich hatte aber schon eine sehr gute Zeit.»
Die Mappe, sie endet 1952. Nicht aber Volkmers Sportlerkarriere. Denn nach seinem Rücktritt als Leichtathlet wird er Orientierungsläufer. Bis 2015. «In meiner Alterskategorie wurde ich etwa fünfmal Schweizer Meister. Aufgeschrieben habe ich das aber nicht mehr.»
Brauchte er auch nicht. Ist ja alles noch in seinem Kopf abgespeichert. Nach der Karriere als Leichtathlet beginnt sein Berufsleben so richtig. 40 Jahre lang arbeitet er bei der Ciba. Vier Jahre lang lebt die Familie in Neapel, weil er dort beim Aufbau einer neuen Fabrik hilft. «Da bin ich aber ab und zu ins Auto gestiegen und in die Schweiz gefahren, um an einem OL teilnehmen zu können.»
Zusammen mit seiner Frau Marta hat das Paar zwei Kinder. 1987 wird er pensioniert. «Da hiess es, ich bräuchte ein Hobby. Seitdem mache ich Tiffany-Lampen. Und Dekorationsgegenstände aus Glas.»
Volkmer lebt seit dem Tod seiner Frau vor fünf Jahren alleine. Er hat zwei Kinder, sechs Enkel und dreizehn Urenkel. Wie sieht der Alltag eines 100-Jährigen aus? «Ich schlafe lange, so bis 11, 12 Uhr. Dann esse ich Zmorge. Ein weiches Ei, Butter, Konfitüre. Mittagessen tue ich weniger. Am Nachmittag erledige ich Kommissionen, denn ich mache ja vieles noch alleine. Am Abend esse ich meistens etwas Anständiges, wenig Fleisch aber. Mal koche ich selber, mal bekomme ich was von meiner Tochter. Danach schaue ich meistens bis um 1 Uhr nachts Fernsehen.»
Wie geht es gesundheitlich? «Eigentlich ganz gut. Nur die Gicht in den Händen, das ist eine blöde Krankheit. Ich mache deshalb viel Gymnastik mit den Händen. Vor gut 20 Jahren bekam ich zwei neue Kniegelenke. Danach war alles wieder gut. Und ein paar Jahre später stolperte ich über eine Wurzel und brach mir dabei den Oberschenkel. Danach erhielt ich auch noch ein neues Hüftgelenk. Und auch dann war alles wieder gut.»
Macht er sich Gedanken über den Tod? «Nein, ich habe auch mit meiner Frau nie über den Tod geredet. Manche sagen zwar, man sollte darüber reden, aber das ist nichts für mich.»
Und wie hält er es mit Corona? Ein schwieriges Thema. Seine Tochter und sein Sohn verdrehen die Augen. «Er hat halt einen sturen Grind», sagt René. Sein Vater meint: «Ich ging früher immer zur Grippeimpfung. Gegen Corona habe ich mich aber nicht impfen lassen.» Warum nicht? «Weil ich Befehle vom Bundesrat nicht gerne befolge. Er hat immer gesagt: Ihr müsst euch impfen! Das hat mir nicht gepasst. Jeder soll das für sich entscheiden. Wäre der Druck nicht so gross gewesen, hätte ich mich vielleicht impfen lassen.»
«Dann haben wir einen Weltkrieg»
Vier gewinnt? Weil Karl Volkmer seine Mappe mittlerweile geschlossen hat und in den letzten Minuten schon fast eine Art Dialog entstand, noch ein vierter und letzter Versuch: Herr Volkmer, wie haben Sie den Zweiten Weltkrieg erlebt? «Bei OB hatten wir mal eine Generalversammlung. Die war in der Stadt. Als wir in der Nacht nach Hause liefen, sahen wir, wie im Gundeli-Quartier die Bomben runterfielen. Oder einmal in Allschwil. Da sah man, wie die Franzosen rüber nach Deutschland schossen. Man hat die Granaten richtig heulen gehört. Angst hatte ich aber keine. Wir wussten ja, wo der Luftschutzkeller ist.»
Doch heute, über 75 Jahre später, tobt in Europa wieder ein Krieg. Macht ihn das traurig? «Ja, wir müssen aufpassen. Sobald die Nato eingreift, haben wir einen Weltkrieg. Angst habe ich davor nicht, aber ich habe im Gefühl, dass es so weit kommen könnte.»
Ein trauriger Gedanke zum Abschied. Karl Volkmer steht auf, schüttelt die Hand und sagt: «Schicken Sie mir dann bitte die Ausgabe mit dem Artikel drin. Damit ich ihn schön einkleben kann. Ich habe den SonntagsBlick ja nicht abonniert. Und die ‹Basler Zeitung› habe ich abbestellt. Die berichten ja fast nur noch über den FC Basel. Das gefällt mir nicht. Machen Sie es besser!»
Und da ist es wieder, dieses Funkeln in den Augen und dieses spitzbübische Lächeln.