Zu Besuch beim Schweizer Wunderläufer Julien Wanders
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Der weisse Kenianer:Zu Besuch beim Schweizer Wunderläufer Julien Wanders

Julien Wanders lebt und trainiert in Kenia
«In der Schweiz hätte ich nie das Gleiche geschafft»

Was tun, um so gut wie die Kenianer zu werden? Ein Kenianer werden. Julien Wanders (23) lässt alles hinter sich und wird in der Fremde zu einem der Besten der Welt.
Publiziert: 05.05.2019 um 15:04 Uhr
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Aktualisiert: 05.05.2019 um 15:21 Uhr
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Wanders will an der WM um die Medaillen mitlaufen. Dafür trainiert er in Kenia.
Foto: Jürg Wirz
Jürg Wirz aus Iten

Langstreckenläufer aus Europa sind in einem internationalen Rennen meist schon geschlagen, wenn sie am Start stehen. Sie erstarren in Ehrfurcht. «Gegen die übermächtigen Afrikaner haben wir keine Chance. Die profitieren von genetischen Vorteilen.» Solche Sätze sind auch in der Schweiz oft zu hören. Doch jetzt kommt einer, der diese Theorie auf den Kopf stellt und zeigt, dass man auch als Weisser an die Spitze kommen kann.

Julien Wanders, seit März gerade mal 23, hält den Weltrekord über 5 Kilometer auf der Strasse, dazu die Europarekorde über 10 Kilometer und im Halbmarathon – beide gehörten Mo Farah, dem vierfachen Olympiasieger und überragenden Bahnläufer der letzten Jahre. Das hat noch nie ein Schweizer geschafft, auch nicht der legendäre Markus Ryffel oder Viktor Röthlin.

Die Schul-Abschlussarbeit schrieb er über «das Geheimnis der Kenianer»

Julien wuchs in Genf in einer Musikerfamilie auf. Er hatte keine Wahl: Auch er musste ein Instrument spielen. Er entschied sich für Cello. Das Üben fiel ihm nicht immer leicht. In dieser Zeit lernte er aber eine wichtige Eigenschaft, die ihm später zugutekommen sollte: Selbstdisziplin. «Eigentlich», sagt Wanders heute, wenn er zurückblickt, «benahm ich mich recht oft wie ein verwöhnter Balg. Wenn meine Schwester an Weihnachten zum Beispiel vier Geschenke erhielt, ich aber nur drei …»

In Kenia hat er gelernt, dass andere Dinge wichtiger sind. Die meisten Kinder kommen dort aus sehr bescheidenen Verhältnissen. Sie haben keine Spielsachen und sind trotzdem glücklich und zufrieden. Die jungen Kenianer trainieren, um der Armut davonzulaufen. Julien Wanders tut es, weil Laufen seine Leidenschaft ist. Sein Talent und seine Kompromisslosigkeit haben ihn in die Weltklasse geführt. Doch das geschah nicht über Nacht.

Er spielte Tennis, war auch gut im Fussball und schon als Knirps in der Leichtathletikabteilung von Stade Genève. Schon bald wollte er Läufer werden und begann sich für das Training der Kenianer und deren Lebensweise zu interessieren. Er las über Iten, die Stadt im kenianischen Hochland, und die neuseeländischen Zwillingsbrüder Jake und Zane Robertson, die im Alter von 17 Jahren ihre Heimat verlassen hatten und in Kenia zu internationalen Läufern wurden. Die Schul-Abschlussarbeit schrieb er über «das Geheimnis der Kenianer».

Iten ist zu seiner zweiten Heimat geworden

Nach der Matur gabs für ihn nur ein Ziel: Kenia. Warum? Ganz einfach: «Wenn du so gut werden willst wie die Kenianer, musst du so trainieren und so leben wie sie.» Die Eltern waren nicht gerade begeistert, schliesslich war ihr Sprössling erst 18, aber sie wussten, dass sie ihn nicht davon abhalten konnten. Mutter Bénédicte, eine Französin, sagt mit einem Lächeln: «Julien war schon immer so, er hatte schon immer einen starken Willen.»

Es war Ende 2014. Julien hatte einen Flug nach Nairobi, er wusste, wie er nach Iten kam, und er hatte die Telefonnummer eines kenianischen Läufers, die ihm ein Bekannter in Genf gegeben hatte. Und so hauste er ein paar Wochen bei diesem Bekannten eines Bekannten.

Er erinnert sich noch gut: «Ich wohnte dort und ass dort – zu Mittag das Maisgericht Ugali und am Abend meist Reis und irgendetwas. Das war eigentlich kein Problem, schlecht war nur, dass dieser Läufer und sein Bruder keine Tagesstruktur hatten. Manchmal gab es erst um 22 Uhr zu essen.» Im nächsten Jahr mietete er sich eine Wohnung und blieb schon länger. Inzwischen ist Iten zu seiner Heimat geworden.

«Durch Kolly habe ich gelernt, dass das Leben nicht nur aus Laufen besteht»

Er lebt mit seiner kenianischen Freundin Kolly, einer Lehrerin, die in Iten ein Restaurant führt, seit mehr als zwei Jahren in einem kleinen Zwei-Zimmer-Reihenhäuschen, wie sie hier überall zu finden sind: blaue Metalltüre und vergitterte Fenster, eine kleine Küche mit Gaskocher, Kühlschrank und immerhin eine Nespresso-Kaffeemaschine, das Wohn-/Esszimmer grün gestrichen, eine schwarz-weisse Sitzgruppe, ein Schrank mit den Trophäen, darüber ein Flachbildfernseher, keine drei Meter vom Sofa entfernt. Draussen hängen die Trainingskleider zum Trocknen.

«Sie tut mir sehr gut», sagt Julien mit einem Lächeln, «durch Kolly habe ich gelernt, dass das Leben nicht nur aus Laufen besteht.» Doch nach einer kurzen Pause schiebt er den Satz nach: «Ich habe ihr schon am Anfang klargemacht, dass ich auch für eine Frau, die ich liebe, meine Prioritäten nicht ändern werde.» Die Prioritäten: Das heisst, alles dafür zu tun, um ganz an die Weltspitze zu kommen. Nicht nur auf der Strasse, sondern auch auf der Bahn über 5000 und 10 000 Meter. Auf die Frage nach seinem Ziel an der WM im Herbst in Doha sagt er mit dem ihm eigenen Selbstvertrauen: «Ich will nicht einfach mitlaufen, ich will eine Medaille.» The sky is the limit – es gibt keine Grenzen.

In Kenia hat Wanders alles, was er als Läufer braucht

Wer so erfolgreich ist, wird zwangsläufig auch mit Doping in Verbindung gebracht, gerade in Kenia, wo es immer noch zu viele Fälle gibt. Wanders wurde im letzten Jahr bei Wettkämpfen und im Training rund 50 Mal kontrolliert. Sein Erfolgsgeheimnis: Er trainiert wie ein Weltklasseläufer mit der Zielstrebigkeit eines Schweizers, achtet sehr auf die Erholung und auf die Ernährung. Er hat ein Paket geschnürt, das für ihn stimmt. «Nach Kenia zu kommen, war meine beste Entscheidung. Hier habe ich alles, was ich als Läufer brauche. Ich geniesse das einfache Leben, es ist entspannt, kein Druck, kein Stress. Ich bin mein Herr und Meister. Und ich habe die besten Trainingsbedingungen. In der Schweiz hätte ich nie das Gleiche geschafft.»

In Iten taucht er ein in dieses Leben, das nur aus Essen, Schlafen und Trainieren besteht. Tagwache ist spätestens um 6 Uhr, schlafen geht er in der Regel kurz nach 20 Uhr. Und er läuft jede Woche rund 200 Kilometer.
Iten liegt auf 2400 Metern über dem Meer. Das bedeutet ständiges Höhentraining und mehr Sauerstoff im Blut. Die Kleinstadt nennt sich recht unbescheiden – aber nicht ohne Grund – «Home of Champions». Hier leben und trainieren mehr Weltklasseläufer als irgendwo sonst auf der Welt.

Der Schweizer ist eine Ausnahmeerscheinung

Bevor die ersten Sonnenstrahlen über den nahen Hügeln hervorblitzen, schlendern sie aus allen Himmelsrichtungen zu den Besammlungsorten, die hier jeder kennt. Und dann gehts los. Die Rangordnung ergibt sich von selbst: Vorneweg die Arrivierten, dahinter versuchen die Jungen den Anschluss zu halten. Die Schritte der Läufer trommeln gleichförmig auf die rotbraune Erdstrasse. Wie der Regen, wenn er auf die Wellblechdächer prasselt, die in dieser Gegend einen gewissen Wohlstand bedeuten. Im kenianischen Hochland laufen Tausende und hoffen, den Durchbruch zu schaffen.

Julien Wanders hat es geschafft, als Weisser unter den Kenianern. Er hat heute seine eigene Trainingsgruppe, die nach den Plänen seines langjährigen Genfer Coachs Marco Jäger trainiert. Sie akzeptieren ihn als ihren Chef. Der Schweizer ist eine Ausnahmeerscheinung – in jeder Beziehung. Ein Vorbild im Land der Läufer.

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