Van Niekerk läuft um WM-Gold
Diese Urgrossmutter bringt den Bolt-Nachfolger auf Trab

Usain Bolt geht nach der WM, Südafrikas Wayde van Niekerk übernimmt als Super-Star der Welt-Leichtathletik. Dahinter steckt eine aussergewöhnliche Frau. «Tannie Ans» – Tante Annie – wie sie Freunde nennen. Mit BLICK spricht sie.
Publiziert: 08.08.2017 um 11:34 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 13:30 Uhr
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Annie Botha (75): Van Niekerk tanzt, pardon trainiert, nach ihrer Pfeife.
Foto: DUKAS
Carl Schönenberger

Annie Botha in einem Hotel voller Leichtathletik-Stars auszumachen, ist einfach. Viele ältere Damen gehen da nicht ein und aus. Das muss sie sein, schiesst es mir Anfang Juli vor Athletissima in Lausanne durch den Kopf. «Ich habe doch euch Journalisten nichts zu erzählen», wimmelt sie zuerst ab. Erst als ich ihr von meinen Südafrika-Trips berichte, von Trainings-Besuchen in Potchefstroom, von Kontakten mit südafrikanischen Freunden, die zu Zeiten der Apartheid selbst Weltklasse-Läufer aber von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen waren, bricht das Eis. Annie setzt sich zu mir an den Tisch. «Aber nur kurz», sagt sie. «Die Sportler sind für sie interessanter.» Aus dem «kurz» werden schliesslich 90 hochinteressante Minuten.

Frau Botha, wie ist es als über 70-jährige Frau mit ihrem Top-Athleten rund um die Welt zu jetten und anstatt im wohligen Zuhause in Hotels zu logieren?
Annie Botha: Zuerst muss ich eines korrigieren. Es wird vielfach geschrieben, ich sei 74-jährig, dabei werde ich im Dezember 76 Jahre alt. Aber zur Frage: Ich empfinde es als Privileg, als Geschenk Gottes, die Gesundheit und die Kraft zu haben, diesen Riesen-Job in meinem Alter noch zu schaffen. Eigentlich bin ich eine Person, die ihr Privatleben schützt, aber langsam gewöhne ich mich an die Situation. Ich habe kein Heimweh, ich respektiere die Realität. Ich bin neugierig und glücklich, immer wieder Neues zu erleben. Es ist doch wunderbar, immer noch das tun zu können, was ich liebe – mein Hobby, meinen Athleten beim Training und beim Wettkampf zu helfen.

Wenn Sie von «meinen Athleten» sprechen, meinen sie Wayde van Niekerk, den 400-m-Olympiasieger von Rio. Den Mann, der als Aushängeschild der Welt-Leichtathletik die Nachfolge von Superstar Usain Bolt antreten soll.
Ja, aber nicht nur. Ich war ja früher selbst Leichtathletin, machte Hürdensprint und Sprünge. Seit 1990 bin ich Head Coach an der Free State University und trainiere dort über 30 Athleten.

Ungewöhnlich für eine Frau.
Nein, nicht in Südafrika. Da gibt es viele weibliche Coaches. Wir sind sensibler als Männer. Dank unserem Mutterinstinkt können wir uns besser in die Situation der Athleten versetzen. Zum Beispiel bei Wayde: Da muss ich zur Kontrolle beim Training nicht auf die Stoppuhr schauen, um zu wissen, ob es gut oder schlecht war. Ich spüre, was sein Body mir sagt, danach entscheide ich, ob wir das geplante Training durchziehen oder abbrechen.

Wie sind Sie überhaupt zur Trainerin von Wayde van Niekerk geworden?
Das war Ende 2013 als er auf mich zu gekommen ist und mich gefragt hat, ob ich ihm auf seinem sportlichen Weg helfen könne.

Und Sie haben bei seinem Ausnahme-Talent natürlich sofort Ja gesagt.
Im Gegenteil. Der Junge hat mir schlaflose Nächte bereitet. Wayde war damals ein 21-jähriger 100-m-Sprinter, der über zwei Jahre lang dauernd verletzt war. Ich wusste, wenn ich als sein neuer Coach Ja sage, dann geht es für mich nicht darum, ihn schneller zu machen. Ich musste schauen, dass er gesund wird, dass er aus seiner Verletzungs-Spirale herausfindet. Ich spürte eine tonnenschwere Verantwortung.

Und dann «polten» Sie ihn ausgerechnet auf die härteste Sprint-Disziplin, die 400 Meter, um?
Ja, da sind die Bewegungen weniger Explosiv als beim 100-m-Sprint, für seine fragilen Muskeln weniger gefährlich.

Und Wayde war von ihrem Vorschlag sofort begeistert?
Das weiss ich nicht, es ist eben anders gelaufen. Bevor ich für einen jungen Leichtathleten die Verantwortung als Coach übernehme, will ich wissen, ob seine Eltern damit einverstanden sind. Also bin ich zu Waydes Eltern gefahren, habe sie gefragt, wie sie seine sportliche Laufbahn sehen. Erst dann habe ich ihnen meine Ideen dargelegt. Und Wayde, seine Eltern und ich waren sofort einer Meinung. Den Kontakt zu den Eltern pflege ich übrigens bei all meinen Athleten. Bei den Van Niekerks fühle ich mittlerweile als Teil der Familie.

Und dann ist Wayde 2015 in Peking auf Anhieb 400-m-Weltmeister geworden. Was danach abging muss sie geschockt haben – Wayde war völlig erschöpft, musste auf der Bahre und an Infusionsschläuchen direkt aus dem Stadion ins Spital gebracht werden.
Geschockt? Ich war extrem zornig. Wayde hat einzig den Fehler gemacht, sich direkt nach dem Lauf auf den Boden zu legen. Da ist sein Kreislauf kurz abgestürzt. Er hätte auf den Beinen bleiben müssen, dann wäre das nicht passiert. Sein Abtransport durch die übereifrigen Funktionäre war nur Theater, völlig unnötig. Wayde hätte sich schnell erholt.

Und ist dann ein Jahr später im Olympia-Final von Rio mit 43,03 Sekunden den Fabel-Weltrekord gelaufen.
Genau. Aber Rio war für mich als Waydes Coach ein schreckliches Erlebnis. Man hat mich erst über drei Stunden nach dem Rennen zu ihm gelassen, dabei wollte ich mich doch so sehr mit ihm zusammen über den Coup freuen. Aber Fernsehen, Journalisten, Dopingkontrollen, Pressekonferenz – alles war wichtiger. Ich bin am Abend auf meinem Bett gesessen, habe gebetet und bloss noch geweint. Man hatte mir einen meiner schönsten Augenblicke des Lebens gestohlen. Fertig! – so etwas will ich nie mehr, habe ich mir im ersten Moment gesagt.

Wayde ist ein grosser Kämpfer. Dabei ist er eine Frühgeburt, seine Mutter brachte ihn schon in der 29. Schwangerschafts-Woche zur Welt. Sind Frühgeburten später im Leben stärker, weil sie als Babys zu Beginn härter als andere Neugeborenen kämpfen mussten?
Es gibt diese Theorie. Dazu will ich Ihnen von einem eigenen Erlebnis erzählen. Nach seinem Olympiasieg von Rio ist Wayde in seiner südafrikanischen Heimat zu einer Art Botschafter für eine Spezialklinik für Frühgeborene in Kapstadt ernannt worden. Gemeinsam mit ihm habe ich diese Klinik besucht. Für mich war es wie ein Wunder der Natur als ich die vielen Frühchen gesehen habe, wie sie als kleine Häufchen von Nichts um jeden Herzschlag, um jeden Atemzug kämpften. Tatsächlich, Wayde profitiert wohl heute noch von diesen gottgegebenen Kräften.

Da spricht das Mutterherz.
(sie lacht) Ich denke schon. Schliesslich habe ich selbst drei Kinder, bin fünffache Grossmutter und fünffache Urgrossmutter. Meine Enkel und Urenkel wären für mich wohl der einzige Grund, auf meinen Reisen mit Wayde rund um die Welt ab und zu Heimweh zu haben.

Gewinnt Van Niekerk das Double?

Wayde van Niekerk (25) soll in die Fussstapfen von Usain Bolt als Aushängeschild der Welt-Leichtathletik treten. Der Südafrikaner aus der Nähe von Kapstadt studierte Marketing und ist weltweit der einzige Sprinter, der die 100 m unter 10 Sekunden (9,94), die 200 m unter 20 (19,84) und die 400 m unter 44 (43,03) schafft. 2015 in Peking wurde Van Niekerk Weltmeister über 400 m, 2016 in Rio Olympiasieger in der Weltrekordzeit von 43,03 Sekunden. Bei der WM in London versucht er das 200/400-m-Double.

Der 400-m-Final steigt am Dienstag, 5. August. Die 200-m-Finalissima bereits am Donnerstag, 10. August. 1996 bei Olympia in Atlanta hat Michael Johnson (USA) das unübliche Sprint-Double geschafft.

Wayde van Niekerk (25) soll in die Fussstapfen von Usain Bolt als Aushängeschild der Welt-Leichtathletik treten. Der Südafrikaner aus der Nähe von Kapstadt studierte Marketing und ist weltweit der einzige Sprinter, der die 100 m unter 10 Sekunden (9,94), die 200 m unter 20 (19,84) und die 400 m unter 44 (43,03) schafft. 2015 in Peking wurde Van Niekerk Weltmeister über 400 m, 2016 in Rio Olympiasieger in der Weltrekordzeit von 43,03 Sekunden. Bei der WM in London versucht er das 200/400-m-Double.

Der 400-m-Final steigt am Dienstag, 5. August. Die 200-m-Finalissima bereits am Donnerstag, 10. August. 1996 bei Olympia in Atlanta hat Michael Johnson (USA) das unübliche Sprint-Double geschafft.

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