Dominic Lobalu schrieb 2024 Schweizer Leichtathletik-Geschichte
Der filmreife Aufstieg vom Flüchtling zum Europameister

Ausnahmeläufer Dominic Lobalu blickt auf ein denkwürdiges Jahr 2024 zurück. Mit EM-Gold, EM-Bronze und einem vierten Platz bei Olympia schrieb er Schweizer Leichtathletik-Geschichte. Dabei begann er 2019 als Flüchtling aus dem Südsudan bei null.
Publiziert: 29.12.2024 um 15:42 Uhr
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Aktualisiert: 29.12.2024 um 20:34 Uhr
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Ein Leichtathletik-Traum in Rot-Weiss: Dominic Lobalu jubelt an der EM in Rom über den Triumph über 10'000 Meter.
Foto: AFP
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Matthias DubachLeiter Reporter-Pool Blick Sport

Als Dominic Lobalu (26) vor dem Interview mit Blick seinen Trainer Markus Hagmann (49) erblickt, beginnt er sofort zu schmunzeln. Hagmann steckt in einem eleganten Outfit – dieser Anblick erheitert Lobalu sichtlich. Der Trainer lacht mit und entschuldigt sich fast dafür, dass er für ein Weihnachtsessen am Abend anders als sonst angezogen ist. 

Die Episode im kleinen Bistro vom Hotel Säntispark in Abtwil SG zeigt: Diese beiden kennen sich gut. Sehr gut. Der Sekundarlehrer und ehemalige Läufer Hagmann ist Coach beim LC Brühl in St. Gallen, als 2019 eines Tages ein Flüchtling namens Dominic Lobalu vor ihm auf der Laufbahn steht. Zwischen dem Duo entsteht neben der sportlichen Zusammenarbeit eine tiefe Freundschaft, für die beiden Kinder Hagmanns ist Vollwaise Lobalu aus dem Südsudan wie ein älterer Bruder.

Anfang Jahr keine Starterlaubnis – Mitte Jahr Europameister

2024 ist nun zum bisher denkwürdigsten Jahr auf Lobalus filmreifem Weg an die Leichtathletik-Weltspitze geworden. Der Ausnahmeläufer bestellt einen Grüntee und beginnt zu erzählen. Vom Jahr, das aus viel zäher Warterei auf Startbewilligungen bestand und mit EM-Gold, EM-Bronze und einem vierten Rang an den Olympischen Spielen in die Geschichte der Schweizer Leichtathletik einging. 

Im Mai bekam Lobalu, der sich frühestens 2032 in der Schweiz einbürgern lassen kann, die Genehmigung, an der EM in Rom für die Schweiz zu starten. Symbolisch erhält Lobalu von Swiss-Athletics-Präsident Christoph Seiler in Bern ein Schweizer Trikot. «Darauf habe ich lange gewartet. Ich freute mich sehr, diesen Moment mit Christoph zu teilen, weil er sich immer für mich eingesetzt hat», sagt er.

Aber Lobalu betont auch: Für ihn hat das denkwürdige 2024 schon weit vor dem historischen Mai-Tag begonnen. Eigentlich schon an Silvester 2023. Er läuft in Barcelona Europarekord über 5 km und kurz darauf im Januar in Valencia ebenso über 10 km, beides auf der Strasse.

Ein Schweizer Trikot, das für Lobalu eine neue Welt eröffnet

Weil er da seit kurzem unter Schweizer Flagge starten darf, gehen die Marken in die Statistiken ein. Doch ein Start im Nationalteam an einer EM oder WM ist da noch immer weit entfernt. Hagmann lässt seinen Schützling dennoch für die EM trainieren. Man weiss ja nie. «Die Ungewissheit hat viel Energie gekostet», sagt der Coach. Und Lobalu ergänzt: «Manchmal war es schwierig, die Motivation zu behalten.» Doch seine unbändige Leidenschaft fürs Laufen kommt immer wieder rasch zurück. «Ich sagte mir dann einfach: Selbst wenn es mit der EM nicht klappt, habe ich immer noch die Starts in der Diamond League und auf der Strasse.»

Dann die Erlösung: Lobalu darf an die EM. «Es war sehr speziell, plötzlich die Schweizer Teamkleidung zu tragen und die neuen Teamkollegen am Flughafen zu begrüssen», schildert Lobalu. Er, der im Leben und im Sport nie irgendwo richtig dazugehörte, nach dem Tod der Eltern keine Heimat und keinen Pass hatte und nach dem Asylantrag in der Schweiz auch im Sport wieder ganz unten und scheinbar perspektivlos anfangen musste, war nun vollwertiges Mitglied einer EM-Delegation. Ein Traum. 

Und dann verläuft Rom auch traumhaft, «auch wenn das Essen im Hotel eher mässig war», wie er sich lachend erinnert. Lobalu holt Bronze über 5000 Meter und Gold über 10’000 Meter. Auch dank des «Kicks» im Schlussspurt, den Hagmann im Hinblick auf erhoffte Titelkämpfe schon früh ins Trainingsprogramm aufgenommen hatte. 

Der vierte Rang 4 an Olympia? «Ein geniales Rennen»

Doch die Medaillen waren daheim in Abtwil SG kaum aufgehängt, da kommt das nächste Fragezeichen auf Lobalu zu. Während ihm die internationalen Verbände die EM als Schweizer Starter erlaubte, wird ihm vom IOC die Olympia-Teilnahme untersagt. Nach einer Bedenkzeit nimmt Lobalu das Angebot, fürs olympische Flüchtlingsteam zu starten, aber an. Hagmann gibt zu, dass er gewisse Bedenken hatte vor negativen Reaktionen in Anbetracht des sportpolitischen Wirrwarrs. Der Trainer sagt: «Doch die Rückmeldungen waren wunderschön. Die Leute freute es enorm, dass Dominics grosser Traum von Olympia in Erfüllung ging.»

Der Weg von Lobalu zu den Spielen war weit. Sehr weit. Doch dann plötzlich real. Er checkt am 4. August in Paris ein, er und Hagmann kriegen unter dem Dach der Schweizer Delegation ein eigenes Mini-Appartement mit zwei Zimmern. Das Bett ist zwar hart und das Kissen erst nach Entfernung von viel Stopfmaterial bequem. Doch der Spirit im olympischen Dorf haut Lobalu um. Die vielen Begegnungen mit Athleten aus anderen Ländern. Der Kontakt zu Schweizerinnen und Schweizern ausserhalb der Leichtathletik: «Ich wurde von allen erkannt, ich hingegen musste immer nachfragen. Das war sehr lustig, die Bahnradfahrer haben mir ihre Sportart auf dem Handy gezeigt.»

Als Vierter im 5000-Meter-Lauf schrammt er um 0,14 Sekunden am Podest vorbei. Lobalu und Hagmann schmunzeln heute: Eine verpasste Olympia-Medaille ein Drama? Also bitte! «Es war ein geniales Rennen», jubelt der Coach noch heute. Und Lobalu sagt: «Was soll ich mich darüber nerven? Negative Gedanken vergiften nur den Kopf.»

Bis zu Olympia 2028 dauerts zwar noch etwas. Aber mit der WM 2025 in Tokio kommt Lobalus nächstes grosses Ziel rasch näher. Diesmal ohne Zittern und wie in Rom mit Schweizer Kreuz auf der Brust. Für die Reise nach Japan hat er schon alle Reise- und Startgenehmigungen im Sack. 

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