Vor 14 Jahren habe ich in Kingston Usain Bolt erstmals laufen gesehen. Er war damals ein 16-jähriger Wunderknabe. Jetzt schliesst sich der Kreis, Bolt tritt nach London zurück. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen, an die Anfänge einer aussergewöhnlichen Karriere.
Es ist ein schwülheisser Tag im Frühling 2003. Neben mir im offenen Leichtathletik-Stadion in Kingston sitzt Burt Cameron, der 1983 in Helsinki Weltmeister über 400 Meter wurde. Und erklärt, warum Jamaika, dieser kleine Inselstaat in der Karibik, eine Wiege des Sports ist. Warum so viele Jamaikaner so schnell laufen können.
«Unsere Vorfahren kommen aus Westafrika. Und die waren, anders als die dünnen Ostafrikaner, extrem muskulös», sagt Cameron. Und ergänzt: «Und in Jamaika ist das Klima und die Ernährung perfekt.»
Unten auf der Bahn finden die jamaikanischen Schülermeisterschaften statt. Neben Burt Cameron sitzen auch viele Scouts amerikanischer Universitäten auf der Tribüne. Sie suchen junge Talente, die sie mit Stipendien in die USA locken. Damit sie ihrer Universität sportlichen Ruhm bescheren.
«Jetzt musst du aufpassen. Jetzt kommt unser neuster Wunderknabe», sagt Cameron. Unten macht sich für den 200-Meter-Lauf ein schlaksiger junger Mann bereit. Er ist im Bus mit seinen Kollegen von der William-Knibb-Schule aus Trelawny angereist. Und er ist mit 16 Jahren schon fast zwei Meter gross.
Cameron diktiert mir den Namen des Jünglings in den Notizblock. Usain Bolt. Der läuft unten seinen Alterskollegen um die Ohren. Leichtfüssig sprintet er über 200 Meter in 20,25 Sekunden zum Sieg. Bei leichtem Gegenwind. Es ist die beste Zeit, die ein Junge in seinem Alter je gelaufen ist. Seine Gegner sehen nur seine Fersen.
Man kann sich im Stadion frei bewegen. Bolt sitzt nach seinem Rennen mit seinen bunt gekleideten Schulkollegen im Gras und schaut sich die Wettkämpfe an. Dann setzt er sich zu mir auf die Tribüne. Scheu und etwas stotternd gibt er Auskunft und schaut dabei immer etwas verschämt auf den Boden. Mit acht Jahren habe er mit dem Training begonnen. Er nestelt an seinen Fingern. Und sagt Dinge wie: «Über 100 Meter kann ich nicht laufen, da bin ich viel zu gross.»
Die Geschichte ist bekannt: Usain Bolt wird zu einem der grössten und prägendsten Leichtathleten der Geschichte. Zum besten Sprinter aller Zeiten. Er pulverisiert die Weltrekorde. Gewinnt Titel nach Titel. Ein globaler Superstar. Seine Unsicherheit überspielt er mit einer gigantischen Show. Er fasziniert mit seinen Leistungen. Irritiert aber mit seiner Selbstinszenierung, die aufgesetzt wirkt und so gar nicht seinem Naturell entspricht.
Jetzt beginnt für ihn das Leben danach. Bolt tritt nach London zurück und hinterlässt eine riesige Lücke. Denn irgendwie war die Leichtathletik in den letzten Jahren eine Einmann-Show. Die Show des Usain Bolt.
Hoffentlich läuft er irgendwie weiter. Denn keiner weiss so gut wie er: So, wie der Mensch läuft, so geht es ihm.