Ohne Schweiss und Schmerzen geht gar nichts. Zumindest nicht in jenen Sphären, in welchen sich Elena Quirici bewegt.
Die Aargauerin aus Schinznach ist in ihrer Kategorie (bis 69 kg) die Nummer 2 der Karate-Weltrangliste. Geht alles glatt, kann sie in drei Jahren bei Olympia Gold für die Schweiz gewinnen.
Mit dabei sein wird ihre Grossmutter Isabelle. Nicht physisch, aber in Elenas Herzen. «Sie hat bis zum letzten Atemzug gekämpft – dagegen ist das, was ich mache, nichts. Sie ist mein Vorbild», so die 23-Jährige.
Die Tränen kann Elena dabei nicht zurückhalten. «Entschuldigung», sagt sie – als ob sie sich dafür schämen müsste.
Rückblick. Kurz vor der Europameisterschaft im Sommer 2016 besucht Quirici ihre Grossmutter Isabelle im Spital. Die Alzheimer-Erkrankung ist bereits fortgeschritten, sie erkennt ihre Enkelin nicht mehr, verwechselt sie mit einer Krankenschwester.
Gold-Versprechen für die Oma
«Es war schwierig, das zu erleben. Aber in einem ruhigen Moment habe ich ihr ins Ohr geflüstert: ‹Ich kämpfe für dich, für dich will ich Gold holen.› Ich bin überzeugt, dass sie es verstanden hat – wenn auch nur unbewusst.»
Nur wenige Tage später betritt Quirici den Tatami – so wird die rechteckige Matte beim Karate gennant – bei der Europameisterschaft in Montpellier (Fr). Der Final steht an.
Wohl fühlt sich Elena nicht, nach einem Zusammenprall schmerzt ihr Bein. «Auch sonst lief davor viel komisch. Aber in diesem Moment habe ich an mein Grosi gedacht. Das gab mir unglaubliche Kraft», erzählt sie.
Und tatsächlich: Quirici kämpft formidabel, schlägt die Österreicherin Alisa Buchinger und feiert den grössten Triumph ihrer Karriere.
Zurück in der Schweiz, eilt Elena sofort ins Spital zu ihrer Grossmutter. «Sie konnte zwar nicht mehr reden, doch ich habe den Stolz in ihren Augen gesehen. Sie hielt die Goldmedaille ganz fest in der Hand, wollte sie nicht mehr loslassen. Es war unbeschreiblich.»
Wenige Monate später stirbt sie. Trotz ihrer Trauer sagt Elena heute: «Wenn ich an sie zurückdenke, sehe ich die Medaille um ihren Hals hängen. Nicht um meinen.»
Ob sich dieses Szenario nach den Olympischen Spielen wiederholen wird, steht in den Sternen. Zuerst muss sich Elena für Tokio, wo lediglich die acht weltweit besten Karate-Kämpferinnen antreten, qualifizieren.
«Das ist schwieriger als der Wettkampf selber», sagt sie. Allerdings ist schon jetzt klar: Als Weltnummer 2 hat Quirici beste Karten in der Hand.
«Wie bei der EM will ich auch da Edelmetall», blickt sie auf 2020 voraus. Und gerät ins Schwärmen. Darüber, dass «ihre» Sportart Karate erstmals ins Olympia-Programm aufgenommen wurde («Ich habe den Entscheid des IOC im Live-Ticker mitverfolgt»).
Und darüber, dass dies erstmals im Karate-Heimatland geschieht («Ich liebe Japan, war schon zweimal in den Ferien dort.»)
Abneigung gegen Gewalt
Noch scharrt Elena, deren Mutter seit Jahrzehnten als Karate-Trainerin aktiv ist, aber nicht mit den Hufen. Dafür ist sie gar nicht der Typ. Denn: So hart sie zu sich selbst ist, so sehr verachtet sie Gewalt.
«Ich könnte nie eine Sportart betreiben, bei der ich jemandem verletzte», sagt sie. «Darum geht es im Karate auch nicht. Man muss die Schläge kurz vor dem Ziel abstoppen können. Die Kontrolle ist entscheidend, nur wer sich im Griff hat, kann punkten.»
Trotzdem ist klar: Elena könnte, wenn sie denn wollte, ziemlich viele Menschen weh tun. Da stellt sich die Frage: Musste sie – abgesehen von Rangeleien mit ihren Brüdern Sergio (27) und Silvano (30) – schon einmal Gewalt anwenden? Sie verneint.
Erzählt dann aber: «Eines Tages war ich mit dem Bus unterwegs nach Hause, es war dunkel und nach dem Ausssteigen ist mir jemand nachgelaufen. Da wurde es brenzlig. Doch ich habe mich umgedreht und bestimmt ‹Hey!› gesagt. Die Person ist dann verschwunden.»
Kraft, Beweglichkeit und Kondition sind also das eine. Vor allem aber ist es das Selbstvertrauen, welches Quirici aus ihrem Sport zieht. «Das kann ich immer verwenden», sagt die Frau, die nebenbei zu 40 Prozent in einem Büro arbeitet.
Das war schon immer so, auch in der Kindheit. Und so störte es sie nicht, wenn sie Karate-Kid-Elena genannt wurde. Im Gegenteil. «Ich war immer stolz darauf. Das war, bei Leute die ich kannte, auch nie als Kritik gemeint.» Und was ist bei Menschen, die sie nicht kennen? «Sie sind oft erstaunt, wenn ich ihnen von meinem Leben erzähle. Finden, ich sei so zierlich und gar keine Kampfsau.»
Eine Kampfsau ist Quirici definitiv nicht. Keine weiss das besser wie ihre verstorbene Grossmutter, zu der sie eine so enge Bindung hatte. Elena sagt zum Schluss: «Ich bin überzeugt: Sie schaut mir im Himmel zu. Und sie ist so stolz auf mich, wie ich auf sie war.»