Die sechs Athleten im Karate-Dojo Anglikon AG schwitzen und leiden. Seit über einer Stunde trainieren sie schon, es ist die zweite Einheit des Tages. «Hände rauf! Noch 30 Sekunden! Vollgas, Vollgas!» Um 6.30 Uhr in der Früh absolvierten sie bereits ein Konditionstraining, insgesamt trainieren sie an diesem Tag drei Mal.
Die Vorbereitung für die KWU Kyokushinkai-WM in Kasachstan ist hart. Nur wenige Wochen nach der Schweizer Meisterschaft steht für die jungen Athleten bereits der nächste grosse Wettkampf auf dem Programm. Training ohne Pause, immer mit einhundert Prozent Leistung.
Dass an diesem Vormittag die Kämpfer bereits am Limit sind, wird schnell offensichtlich. Immer wieder müssen sie die Trainer motivieren. Aufgeben? Für niemanden eine Option. Karate bedeutet auch: Immer wieder an die Grenzen gehen. Und diese neu setzen.
Kyokushinkai ist eine Stilrichtung im Karate. Übersetzt aus dem Japanischen bedeutet das Wort «ultimative Wahrheit». Gekämpft wird im Vollkontakt, keine Schoner, kein Schutz. Einzig Tiefschläge oder die Faust gegen den Kopf ist nicht erlaubt. Tönt brutal. Doch die Athleten folgen klaren Regeln, Respekt untereinander ist das oberste Gebot. Schwere Verletzungen sind selten.
Trotzdem kommt es in jedem Kampf zu schmerzhaften Tritten und Schlägen. Entsprechend abgehärtet müssen die Athleten sein, das wird auch im Training deutlich. Simone Muntwyler (28) nimmt bei einem Tritt den bereits angeschlagenen Fuss. Als sie trifft, spürt sie einen stechenden Schmerz. Sofort humpelt sie davon, nimmt Tape und Kühlspray zur Hand. Noch vor Ablauf der dreiminütigen Übung ist sie wieder mit dabei.
Mit vier Jahren angefangen
Simone hat das Talent von ihrem Vater geerbt. Seit dem vierten Lebensjahr praktiziert sie Kyokushinkai, in der Schweiz gehört sie zu den Besten. Auch ihr Vater Heinz (63) gehörte zu den Besten. Verantwortlich für seine Karriere war vor allem einer: Andy Hug. «Er war ein absoluter Superstar», erinnert sich Heinz Muntwyler. «In Japan kennt ihn jeder.» Der Schweizer ist eine Kampfsport-Legende, gewann 1992 als erster Nicht-Asiate den Karate-Weltmeistertitel. Anschliessend stieg er zum besten Kickboxer der Welt auf.
Muntwyler lernte Hug früh kennen. Sein Glücksmoment, wie er selber sagt. «Wir trainierten zusammen, waren an den Wettkämpfen. Und wir zogen zusammen um die Häuser.» Hug wurde ein Familienmitglied, fast ständig waren die beiden gemeinsam unterwegs. Bis zum 17. August 2000.
An diesem Tag erhält Andy Hug Besuch von seinem Doktor. Der Kämpfer ist an Leukämie erkrankt. Muntwyler erinnert sich: «Ein unglaublicher Schock. Andy rief mich an und meinte, er erhole sich davon, und ich solle ihn doch in Japan besuchen kommen.»
Andy ist noch immer ein Star
Dazu kommt es nicht mehr. Am 23. August 2000 fällt Muntwylers engster Freund ins Koma. Einen Tag später stirbt Andy Hug mit 35 Jahren.
Muntwyler ist sicher: «Ohne Andy wäre ich nie so weit gekommen. Aber vor allem wäre der Kampfsport nicht so bekannt geworden. Wenn ich in Russland oder in anderen Oststaaten bin und die Leute erfahren, dass ich mit Andy trainiert habe, werde ich mit Fragen gelöchert. Er ist noch immer ein Star.»
Simone pflichtet ihm bei. Bei der Frage nach Hug schiessen der sonst so gar nicht emotionalen Kämpferin Tränen in die Augen. «Andy war mein Vorbild. Es gab niemanden, der den Kampfsport zu seiner Zeit so gut beherrscht hat. Er ist eine Legende, mit dem ich sehr viel Zeit verbracht habe. Vor allem, weil der Papa die ganze Zeit mit ihm unterwegs war. Für mich gehörte er zur Familie. Ohne ihn wäre ich nie zum Kampfsport gekommen.»
Simone setzt auch heute noch bei jedem Wettkampf auf Andy Hug. Dieser schenkte ihr im Kindesalter ein T-Shirt von ihm. Mittlerweile ist es verwaschen, nur noch leicht schimmert die Farbe auf dem weissen Stoff hindurch. «Den kleinen Rest Farbe muss ich unbedingt noch konservieren», meint Simone. Das Shirt ist ihr Glücksbringer. Bei jedem Ernstkampf trägt sie es unter dem Keikogi, dem traditionellen Anzug. Andy ist immer mit dabei, wacht über Simone. Andy kämpft. In den Herzen der Muntwylers auch heute noch.
Das Training ist zu Ende. Die Athleten versammeln sich im Kreis, versuchen, sich die Krämpfe aus den Waden zu massieren. Es folgt eine kurze Meditation und die traditionelle Verabschiedung. Dann heissts Kraft tanken für den Nachmittag. Zwei von drei Einheiten sind geschafft.
Alles in der Freizeit
Nun gehts für das Team weiter nach Kasachstan an die WM, zwischen dem 7. und 8. Dezember gilt es ernst. Alles in der Freizeit. Die Athleten studieren oder arbeiten zu einhundert Prozent. Die Reise und Kosten vor Ort müssen die Kämpfer zur Hälfte selbst übernehmen. Die andere Hälfte trägt der Verband.
Auch Simone wird mit dabei sein. Gegen die ganz grossen Nationen zu bestehen, wird schwer. Ihr Ziel ist die bestmögliche Platzierung.
Nur eines ist klar: Auch in Kasachstan wird sie das Shirt von Andy Hug tragen. Denn egal, wo und wann: Andy kämpft immer mit.