Eine Reise durch den Schweizer Sport
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In der Coronakrise
Eine Reise durch den Schweizer Sport

Wie gehen Schweizer Sportler mit der Coronakrise um? Sehr gut, wie unser Trip durch die Schweiz zeigt.
Publiziert: 10.05.2020 um 18:22 Uhr
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Patrick Geering: «Den Titel kann man sich nur in den Playoffs erkämpfen. Es wäre ein geschenkter gewesen.»
Foto: BENJAMIN SOLAND
Daniel Leu (Text) und Benjamin Soland (Fotos)

Wie gehen Sportler damit um, wenn sich all ihre Ziele in Luft auslösen? Wenn sie, die normalerweise dauernd in der ganzen Welt unterwegs sind, plötzlich während Wochen zuhause leben müssen? Mit diesen Fragen im Gepäck haben wir uns diese Woche auf eine Reise durch die Schweiz begeben.

Wir haben in drei Tagen 13 Sportler und Funktionäre getroffen. Und mit ihnen über diese verrückten Corona-Zeiten gesprochen. Das Erstaunliche dabei: Niemand hat geklagt, niemand hat wegen des Ausnahmezustands gehadert.

Liegt das daran, dass sich Sportler gewohnt sein müssen, stets mit neuen Situationen umgehen zu können? Oder sind sie sich einfach bewusst, dass zurzeit der Sport nicht das Wichtigste ist und die Gesellschaft grössere Aufgaben zu bewältigen hat?

Die Antworten auf diese Fragen finden Sie in der Geschichte unten. Eine Reise von Zürich nach Bern. Mit zahlreichen Stopps, vielen spannenden Begegnungen (natürlich mit Distanz) und Problemen bei der Beschaffung eines anständigen Salates.

Mittwoch, 6. Mai, 10.10 Uhr, Zürich, Kilometer 0

Patrick Geering: Tomaten geerntet statt Geschichte geschrieben

Wäre alles so abgelaufen wie in seinen Träumen, würde es dieses Treffen hier nicht geben. Dann wäre ZSC-Captain Patrick Geering jetzt vierfacher Schweizermeister und würde in zwei Tagen an der Heim-WM auf dem Eis stehen. Doch der 30-Jährige steht an diesem grauen Mittwochmorgen nicht unmittelbar vor seinem Karrierehöhepunkt, sondern läuft einsam der Limmat entlang. «Es ist verrückt und mega bitter», erzählt Geering, «die WM hätte in meiner Stadt in meinem Stadion stattgefunden. Ich wäre sehr gerne ein Teil des Teams gewesen, um gemeinsam Geschichte schreiben zu können.»

Die Hockeyspieler wurden früh von der Coronakrise getroffen. Bereits Mitte März wurde die Saison abgebrochen, wenige Tage später die WM abgesagt. «Ich erfuhr von meiner Freundin vom Saisonende. Sie las es im Internet. Das war ein Schock, denn als ich wenige Stunden zuvor die Eishalle verlassen hatte, war ich fest davon überzeugt, dass in einigen Tagen die Playoffs mit Geisterspielen beginnen würden.»

Dass der Quali-Sieger ZSC nicht zum Meister ernannt wurde, findet der Verteidiger richtig. «Den Titel kann man sich nur in den Playoffs erkämpfen. Es wäre ein geschenkter gewesen. Nur einer für die Bücher.»

Das Eistraining, die Garderobe, die Arbeitskollegen. Von heute auf morgen alles weg. Wie geht man damit um? «Mir fehlt das zusammen Schwitzen und Reden sehr. Es gibt ja einen Grund, weshalb ich Teamsportler wurde. Das wurde mir in den letzten Tagen immer mehr bewusst. Ich stand gefühlt seit einem Jahr nicht mehr auf dem Eis. Ich bin froh, wenn der Tag ab nächster Woche wieder Struktur hat. Auch wenn wir nur im Kraftraum in Kleingruppen trainieren werden.»

Geering sass in den letzten Wochen aber nicht nur Zuhause rum. «Dass ich auf einmal soviel Zeit hatte, war eine neue Erfahrung.» Er und seine Mitspieler nutzen die unter anderem, um einem Gemüsebauern zu helfen. «Wir haben Tomaten geerntet und Gurken sortiert. Es hat Spass gemacht, etwas Sinnvolles zu tun.»


Mittwoch, 6. Mai, 13.30 Uhr, Luzern, Kilometer 57

Pascal Schürpf: Ermahnung vom Schulabwart

«Endlich darf ich mal wieder auf dem Platz stehen. Wenn auch noch ohne Ball», schwärmt Pascal Schürpf. 80 Tage ist es her, seit er hier in der Swissporarena das letzte Mal auf dem Rasen auflief. Damals waren beim 1:0 gegen St. Gallen 11'406 Fans im Stadion. Heute sind es neben ihm nur zwei Mitarbeiter, die am Werken sind. Ein Vorgeschmack auf kommende Geisterspiele?

Klar ist: Ab Montag dürfen Profi-Fussballer wieder in der Gruppe trainieren. Wenn die Klubs das wollen, denn dadurch müssten sie auf die Kurzarbeitsentschädigung verzichten. «Ich freue mich sehr auf diesen Moment», sagt der FCL-Mittelfeldspieler, «die letzten Wochen konnte ich mich ja nur beim Joggen im Wald mit 70-Jährigen messen ...»

Gefehlt hat dem 30-Jährigen auch die übliche Wochenstruktur. «Normalerweise trainieren wir die ganze Woche auf ein grosses Ziel hin: bereit sein fürs Spiel am Samstag oder Sonntag. Jetzt habe ich Montag bis Freitag für mich alleine trainiert und hatte dann am Wochenende keinen Ernstkampf. Wenn das Ziel fehlt, ist das für die Psyche nicht einfach.»

Geholfen hat ihm dabei eine Erfahrung von früher. «Die letzten Monate waren ähnlich wie nach einer schweren Verletzung. In solchen Situationen musst du Selbstverantwortung übernehmen und dir in schwierigen Momenten einreden: Ich mache es für später, damit ich fit bin, wenn es wieder losgeht.»

Ganz ohne Ball ging es die letzten Wochen bei Pascal Schürpf aber doch nicht. Kurz vor dem Lockdown nahm er noch einen Ball mit nach Hause. «Als ich damit einmal auf dem Schulhausplatz gegen eine Wand spielte, kam prompt der Abwart und bat mich gefälligst, die Mittagsruhe einzuhalten.»


Mittwoch, 6. Mai, 15.30 Uhr, Nottwil LU, Kilometer 80

Alexandra Helbling: «Jetzt habe ich ein Jahr mehr Zeit»

Risikogruppe – ein Wort, das man seit Wochen immer wieder hört. Para-Leichtathletin Alexandra Helbling gehört ihr offiziell an. Wer jetzt aber eine sorgenvolle Frau erwartet, der täuscht sich. «Ich selbst zähle mich nicht zur Risikogruppe», sagt sie mit einem Lächeln. Helbling leidet an einer inkompletten Paraplegie. Das heisst, sie spürt zwar ihre Beine noch, kann aber nicht mehr selbst laufen. Deshalb sitzt sie seit einem Autounfall im Jahr 2000 im Rollstuhl.

Ihr grosses Ziel 2020 wären die Paralympics gewesen. Dafür hatte die 26-Jährige letzten Herbst auch ihren Halbtagesjob im KV-Bereich gekündigt. Dass die Spiele nun aufs nächste Jahr verschoben wurden, ist für die Europameisterin von 2018 über 400 Meter kein Problem. «Ich bin sogar ein bisschen froh, denn ich habe einen neuen Rennrollstuhl und der muss noch gut eingefahren werden. Dank der Verschiebung habe ich jetzt ein Jahr mehr Zeit.»

Zuerst das Positive sehen – das passt zur Innerschweizerin. Sie, die als drei Wochen altes Baby aus Sri Lanka in die Schweiz adoptiert wurde, hat nie mit ihrem Schicksal gehadert. «Als ich mit 6 meinen ersten Rollstuhl bekam, hatte ich grosse Freude und bin nur noch damit rumgerast.» Ihr Lebensmotto: «Ich bin nicht behindert, ich kann nur nicht laufen.»

Doch während der Coronakrise schiebt selbst sie an gewissen Tagen zumindest eine Mini-Krise. Normalerweise trainiert sie im Paraplegikerzentrum Nottwil, doch dieses wurde als Notspital für Corona-Erkrankte umfunktioniert. Deshalb muss sie momentan mit dem Velokeller vorliebnehmen. Ein trostloser Ort. Doch das Ende ist absehbar. «Ab nächster Woche darf ich endlich wieder auf der Bahn trainieren.» Sagt es und lacht. Dass während des Gesprächs die Regenwolken abzogen und die Sonne zum Vorschein kam, es kann kein Zufall sein.


Mittwoch, 6. Mai, 16.45 Uhr, Raststätte Neuenkirch LU, Kilometer 96

Eine erste Verschnaufpause. Ein Sandwich und Cherrytomaten gegen den Hunger. Dann ran an die Arbeit. Anmerkung I: Die Signalisation «STOP CORONA! Bleiben Sie jetzt zuhause» auf der Autobahn wird ignoriert. Das Leben, es pulsiert wieder. Anmerkung II: Wurden die letzten beiden Monate von der Polizei genutzt, um möglichst viele Blitzer aufzustellen? Anmerkung III: Während Geering Tomaten geerntet statt Geschichte geschrieben hat, habe ich in den letzten Minuten Tomaten gegessen statt an dieser Geschichte geschrieben...

Mittwoch, 6. Mai, 18.15 Uhr, Sursee LU, Kilometer 116

Angel Roque: Drei Wochen in einem Zimmer

An einem noch ungewöhnlicheren Ort trainiert zurzeit Angel Roque. Weil die Boxkeller noch geschlossen sind, spult er seine Übungen ein- bis zweimal pro Woche in einer Autogarage ab. In der von Angelo Scalia, dem Vater seiner Freundin. Mitten im Industriegebiet von Sursee. «Ich bin so froh, dass ich hier trainieren kann. Sonst wäre ich wohl schon dick geworden», sagt er und lacht herzhaft.

Dass der Zürcher Boxer heute wieder Autoreifen werfen, zwischen den Autos gegen den Sandsack boxen und Sprüche machen kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Beim Quali-Turnier Mitte März in London für die Olympischen Spiele steckte sich Roque mit dem gefährlichen Coronavirus an. «Es fühlte sich wie eine heftige Grippe an. Hinzu kam der Verlust des Geschmackssinns», erzählt der 24-Jährige.

Roque machte sich aber vor allem Sorgen um seine Mutter, bei der er noch immer wohnt. Als Diabetikerin gehört sie zur Risikogruppe. «Ich war drei Wochen lang ununterbrochen in meinem Zimmer in Quarantäne. Wenn ich aufs WC musste, schrieb ich meiner Mutter eine SMS, sie solle doch kurz aus dem Weg gehen.» Was macht man drei Wochen nonstop in seinem Zimmer? «Vieles! Bücher lesen, Serien schauen, Schattenboxen vor dem Spiegel, und ich habe bestimmt fünfmal meinen Schrank ausgeräumt und meine Klamotten wieder neu sortiert. Diese Isolation war wirklich mühsam.»

Roque stammt ursprünglich aus der Dominikanischen Republik. Mit 13 kam er in die Schweiz. Halt gab ihm schon damals das Boxen. «Hätte ich in meiner alten Heimat nicht schon das Boxen gehabt, wäre ich heute vielleicht ein Räuber oder schon längst tot. Das Boxen hat mich als Mensch gross gemacht und mir Halt gegeben.» Arm seien sie nicht gewesen, er habe aber schon früh gelernt, mit wenig zu leben. «Ich brauche nicht 100 Paar Schuhe, ich habe ja nur zwei Füsse.»

Wie es mit seinem Olympia-Traum weiter geht, ist momentan völlig offen. Das Turnier, an dem er sich angesteckt hatte, wurde schliesslich nach drei Tagen doch noch abgebrochen. Um sich für Tokio zu qualifizieren, hätte er zu diesem Zeitpunkt nur noch zwei Siege gebraucht. Was Roque bis heute am meisten ärgert: «Niemand von Swiss Boxing oder den Organisatoren hat sich bei mir entschuldigt. Und es hat auch keiner mal gefragt, wie es mir geht.»

Donnerstag, 7. Mai, 10 Uhr, Appenzell AI, Kilometer 287

Reto Mock und Michael Bless: Was passiert mit dem Siegermuni?

Es war kalt in der Nacht. So kalt, dass der Mähroboter in der Bleiche Appenzell offenbar den Betrieb eingestellt hat. Lockdown also auch hier, wo Ende August das Eidgenössische Jubiläumsschwingfest EJSF hätte stattfinden sollen. Zum 125-Jahre-Jubiläum des nationalen Schwingerverbands. Klar ist: Das EJSF wird erst im nächsten Jahr ausgetragen.

OK-Chef Reto Mock lässt sich trotzdem nicht aus der Ruhe bringen. Auch wenn die Verschiebung eines solchen Grossanlasses nichts Kleines ist. 18 000 Zuschauer, 120 Schwinger und 2000 Helfer wären gekommen. Viereinhalb Millionen Franken beträgt das Budget. «Die Verschiebung ist für uns eine grosse Herausforderung», erklärt der 45-Jährige, «doch wir stossen bei Partnern, Lieferanten und Helfern auf viel Verständnis.» Auch beim Bauern, auf dessen Wiese das Schwingfest stattfinden wird. Er stellt sie auch fürs nächste Jahr zur Verfügung.

Selbst der Siegermuni Alpstein bleibt der Gleiche. «Er wird im nächsten Jahr dann einfach nochmals 200 Kilogramm schwerer sein», erzählt der Steuerberater und fünffache Kranzgewinner. Die anderen Lebendpreise müssten aber ausgetauscht werden.

87 Kränze gewonnen hat Michael Bless. Er ist rund zehn Kilometer Luftlinie von hier aufgewachsen. Das EJSF war sein grosses Ziel. «Am Eidgenössischen 2019 in Zug verletzte ich mich schwer. Ich dachte damals an Rücktritt. Doch der Gedanke ans Jubiläumsschwingfest in meiner Heimat war mein Anker und meine Motivation.»

Ob Bless jetzt einfach 2021 daran teilnehmen wird, weiss er noch nicht. Ein Rücktritt sei noch immer ein Thema. Zurzeit sind Schwingtrainings aber eh nicht möglich. «Das letzte Mal in einem Schwingkeller war ich im August 2019 vor dem ESAF», erklärt der Versicherungs- und Vorsorgeberater.

Bless sticht aus der Masse der Schwinger hervor. Vor allem wegen seinen zahlreichen Tätowierungen. War er vom Lockdown der Tattoo-Studios in den letzten beiden Monaten betroffen? «Nein. Ich liess mir zum Glück kurz vor der Schliessung ein Geburtstattoo zu Ehren meines einjährigen Sohnes Livio stechen.»

Donnerstag, 7. Mai, 13.30 Uhr, Märstetten TG, Kilometer 346

Heidi Diethelm Gerber: Sie stellt sich die Sinnfrage

In Olympia-Jahren werden liebend gerne Sportmärchen geschrieben. Mit Randsportlern in den Hauptrollen, die niemand kannte und die dann plötzlich scheinbar aus dem Nichts zur Höchstform auflaufen und für die Schweiz eine Medaille holen. So wie Heidi Diethelm Gerber vor vier Jahren in Rio, als die Pistolenschützin mit Bronze brillierte. Ein solches Märchen wird es wegen der Verschiebung von Tokio 2020 in diesem Jahr leider nicht geben.

Vom Rummel von damals ist an diesem sonnigen Donnerstagnachmittag nichts mehr zu spüren. Diethelm Gerber empfängt in ihrem Einfamilienhäuschen in Märstetten. Hier lebt sie zusammen mit ihrem Mann und Trainer Ernst Gerber und ihrer 87-jährigen Mutter. Diethelm Gerber ist momentan in einer speziellen Situation. Ähnlich wie Michael Bless. Sie weiss nicht, ob sie ihre Karriere fortsetzen soll. «Ich musste mich in den letzten beiden Jahren zweimal operieren lassen, einmal am Arm und einmal an der Schulter. Mein Kopf sagt, ich solle weitermachen, mein Inneres ist aber noch nicht soweit und muss auch noch Ja sagen.»

Aussergewöhnlich ist auch, dass die Schützin als eine der wenigen Sportlerinnen 2020 schon einen grossen Wettkampf absolviert hat. Ende Februar gewann sie an der EM im polnischen Wroclaw Silber mit der Luftpistole und Bronze im Mixed-Team. «Das zeigt, dass ich trotz meinen 51 Jahren noch ­immer mit der Weltspitze mithalten kann.»

Zurzeit hat Diethelm Gerber die Pistole aber zur Seite gelegt. Nicht nur wegen des Coronavirus. «Als Schützin ist man normalerweise ständig unterwegs. Und nach Rio war viel Rummel um meine Person. Ich geniesse es jetzt, Zeit zuhause zu verbringen und mal richtig ­runterzufahren.» Und eben zu überlegen, ob es mit ihrer Karriere weitergehen soll.

Donnerstag, 7. Mai, 15 Uhr, Raststätte Kemptthal ZH, Kilometer 386

Das grosse Ärgernis: Der gekaufte Salat beinhaltet weder eine Sauce noch eine Gabel. Das bedeutet wieder Plan B: Sandwich essen. Und wieder Arbeiten inmitten von Brummi-Fahrern aus ganz Europa. Ein erstes Fazit: Ich bin erstaunt, wie gut die Sportler mit der ungewohnten Situation umgehen. Es scheint so, als ob es vielen sogar gut tut, mal runterzukommen.

Donnerstag, 7. Mai, 16 Uhr, Zollikon ZH, Kilometer 409

Olivier Senn und Joko Vogel: «Wir haben nie gehadert»

Die Wiedersehensfreude ist gross. Zum ersten Mal seit rund sieben Wochen treffen sich Olivier Senn und Joko Vogel mal wieder real – und nicht digital während einer Videokonferenz. Die beiden sind Co-CEO von Cycling Unlimited, dem neuen Veranstalter der Tour de Suisse.

Als SonntagsBlick Vogel das letzte Mal traf, war das Coronavirus noch weit weg. Mitte Februar stellte er das neue Konzept vor. Die altehrwürdige Schweizer Landesrundfahrt sollte die modernste Roadcycling-Tour der Welt werden. Er sprach schon damals von einer digitalen Plattform, von digitalen, virtuellen Rennen. Nicht ahnend, dass diese Vision notgedrungen schon zwei Monate später in die Tat umgesetzt werden würde.

Nach der Absage der Tour de Suisse stellten die beiden 50-Jährigen mit ihrem Team innert Wochen «The Digital Swiss 5» auf die Beine, einem virtuellen Radrennen, in dem die Radrennprofis von zuhause aus auf smarten Hometrainern gegeneinander antraten. Live übertragen im Schweizer Fernsehen. Ein Format, das es in dieser Form zuvor weltweit noch nirgends gegeben hatte und auf das es viele positive Rückmeldungen gab. «Diese Rennen haben uns den Kopf gerettet», erklärt Senn heute rückblickend.

Gehadert haben die zwei nie. «Wir haben keine Minute damit verbracht, zu lamentieren und zurückzublicken. Wir haben uns gleich gefragt: Was können wir jetzt auf die Beine stellen? Jeder von unserem Team hat sich Tag für Tag weiterentwickelt und den neuen Begebenheiten angepasst.»

Der nächste Schritt: Im Juni könnte es die virtuelle Tour de Suisse geben. «Die Entscheidung fällt nächste Woche», erklären Senn und Vogel, «die Chancen stehen nicht schlecht. Wir sind quasi auf der Zielgeraden».

Senn und Vogel strahlen viel Optimismus aus. Während manche Veranstalter jammern und sich im Selbstmitleid suhlen, blicken sie stets nach vorne. «Ja, auch wir hatten in den letzten Wochen schlaflose Nächte», sagt Vogel, «doch dank unseren Sponsoren und Partnern, die zu uns halten, werden wir das Jahr mit grosser Wahrscheinlichkeit finanziell überleben.»

Donnerstag, 7. Mai, 17.30 Uhr, Gibswil ZH, Kilometer 437

Siri Wigger: Wird sie Sportlerin des Jahres?

Weltmeisterin 2020! Es gibt wohl nicht viele Schweizer Sportlerinnen, die sich Ende des Jahres so nennen können. Siri Wigger schon. Die Zürcherin holte Anfang März an der Junioren-WM im deutschen Oberwiesenthal in der Staffel Gold. Zusammen mit Nadja Kälin, Anja Weber und Anja Lozza. «Damals fing das Coronavirus gerade an, sich bei uns auszubreiten», erinnert sich Wigger.

Die 17-Jährige stammt aus einer Langlauffamilie. Ihr Eltern Jeremias Wigger und Sylvia Honegger nahmen beide mehrmals an Olympia teil, und auch Siris zwei Jahre älterer Bruder Nicola ist Langläufer.

Siri besucht seit bald drei Jahren die Sportmittelschule Engelberg. Doch seit Februar wohnt sie wieder Zuhause in Gibswil. Natürlich wegen des Coronavirus. «Zurzeit mache ich halbtags Homeschooling und halbtags trainiere ich.»

Für die junge Frau mit dem norwegischen Vornamen ist klar: «Ich will Profi-Sportlerin werden» und dereinst an Olympischen Spielen teilnehmen. Einen kleinen Vorgeschmack darauf bekam sie Anfang des Jahres. An den Olympischen Jugendspielen in der Westschweiz gewann sie gleich zwei Goldmedaillen. «Das war eine unglaubliche Erfahrung. Es hatte sehr viele Zuschauer an der Strecke. Die Stimmung war mega», schwärmt sie, bevor sie langsam ein bisschen ungeduldig wird. Das Rollski-Training lockt. Heute Abend wartet noch eine längere Skating-Einheit auf sie.

Sollten im Dezember doch noch die Schweizer Sportlerinnen und Sportler des Jahres ausgezeichnet werden, Wigger hätte gute Chancen auf den Titel. Nicht nur aus Mangel an Alternativen. Doch als Juniorin käme sie wohl gar nicht in die engere Auswahl.

Freitag, 8. Mai, 10.30 Uhr, Raststätte Grauholz BE, Kilometer 5929

Zweiter Versuch mit einem Salat. Auch dieser scheitert. Bei genauerem Hinschauen entpuppt sich der vermeintliche Salat als Fertiggericht für die Mikrowelle. Doch er schmeckt auch kalt vorzüglich. Egal, auch in der letzten Stunde bestimmt an vier mobilen Blitzgeräten vorbeigefahren. Geld verdient hat die Polizei mit mir auf dieser Reise aber (noch) nicht.

Freitag, 8. Mai, 11.30 Uhr, Münsingen BE, Kilometer 610

Joana Hählen: Kein Surfen im Meer

Joana Hählen muss lachen. «Ohne Corona hättet Ihr mich hier heute nicht treffen können. Dann wäre ich jetzt zusammen mit meinem Freund irgendwo am Meer am Surfen.» Die gute Laune lässt sie sich deshalb aber nicht vermiesen. «Ich bin eine recht flexible Person und mache immer das Beste aus der Situation.» Sie habe die Zeit Zuhause mit ihrer Zwillingsschwester und ihren Lebenspartnern sehr genossen. «Ich habe Bücher gelesen, natürlich trainiert und wie so viele andere oft in der Küche gestanden und mich als Hobby-Bäckerin versucht.»

Speedfahrerin Hählen hat den ­erfolgreichsten Winter ihrer Karriere hinter sich. Gleich zweimal fuhr die 28-Jährige aufs Podest. Auch deshalb hat sie der vorzeitige Saisonabbruch ein klein wenig gewurmt. «Das war sehr schade. Aufs Final-Wochenende freut man sich die ganze Saison. Zumal es ja noch in Cortina d’Ampezzo auf einer coolen Strecke stattgefunden hätte.»

Dank ihren starken Resultaten gehört Hählen in der neuen Saison wieder der Nationalmannschaft an. Doch bereits heute zweifeln Experten wie der ehemalige Skirennfahrer Marco Büchel, dass überhaupt Rennen gefahren werden können. «Ich hoffe es sehr», sagt Hählen, «sonst wäre es schon bitter. Doch ich bleibe positiv.»

Dass ihre österreichischen Konkurrentinnen bereits jetzt wieder auf dem Schnee trainieren dürfen und die Schweizerinnen aber wohl erst im Juli, sieht die Bernerin nicht unbedingt als Nachteil an. «Klar wäre es cool, jetzt auf den Ski zu stehen. Aber manchmal ist es sogar besser, wenn man eine längere ­Pause einlegt.»

Freitag, 8. Mai, 14.15 Uhr, Liebefeld BE, Kilometer 631

Matthias Kyburz: Er ist eine Ich-AG

«Ich als Sportler bin auf einem Luxusgut sitzengeblieben: einer Topform», schrieb Matthias Kyburz Mitte April auf seiner Homepage. Eine Topform, die er zurzeit nicht ausnutzen kann. So schien es zumindest. Also setzte sich der Fricktaler neue Ziele. Sein ehrgeiziges Projekt: den Weltrekord über 50 Kilometer auf dem Laufband brechen.

In einem Dachstock in Olten setzte der Orientierungsläufer, der mittlerweile in Liebefeld wohnt, den Plan in die Tat um und schaffte es tatsächlich. 8500 Franken kamen so für zwei Stunden und 56 Minuten Leiden für die Glückskette zusammen. Danach sagte er: «Ich werde die nächsten zwei Wochen zuhause auf dem Sofa sitzen und viel Schokolade essen.» Hat er auch diesen Worten Taten folgen lassen? «Das mit der Schoggi schon, doch nach einem Tag ging ich bereits wieder trainieren. Ich kann nicht anders»

Im OL-Sport ist bereits heute klar: Es wird 2020 keine internationalen Wettkämpfe geben. Ob in der Schweiz noch Läufe veranstaltet werden, ist momentan noch unklar. «Dabei wäre das kein Problem. In unserer Sportart startet alle drei Minuten ein Läufer, und dann verschwindet er im Wald. Wir könnten die Distanzregeln einhalten.»

Langweilig wird es Kyburz aber trotzdem nicht. Er ist quasi eine Ich-AG und muss sich selbst ums Finanzielle kümmern. Das Absurde: Er muss sogar einen bestimmten Betrag zahlen, um der OL-Nati angehören zu dürfen. «Die Startgagen und Preisgelder fallen dieses Jahr komplett weg. Und wie es bei meinen persönlichen Sponsoren aussieht, muss ich schauen. Ich werde mit allen reden. Natürlich hoffe ich, dass sie mich trotz den Absagen unterstützen.»

Freitag, 8. Mai, 15 Uhr, Liebefeld BE, Kilometer 631

Mujinga Kambundji: Facetime mit dem Grosi

Das Interview mit Sprintstar Mujinga Kambundji
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Sportler in der Corona-Krise:Das Interview mit Sprintstar Mujinga Kambundji

Ein 50-Kilometer-Lauf? «Das wäre definitiv nichts für mich», sagt die Sprinterin Mujinga Kambundji lachend, «mehr als mal 15 bis 20 Minuten Joggen am Stück gibts in meinen Trainings nicht.»

Kambundji hätte 2020 einige Höhepunkte gehabt: Olympia in Tokio, die EM in Paris. Alles abgesagt! Es ist sogar möglich, dass die Bernerin wegen der Coronakrise in diesem Jahr keinen einzigen Wettkampf bestreiten kann. «Dessen bin ich mir bewusst. Trotzdem habe ich kein Motivationsproblem. Ich würde selbst in diesem Fall auf einen virtuellen Peak hinarbeiten. Auf ein bestimmtes Datum, an dem ich meine Topform haben möchte. Das würde mir auch für die Ziele 2021 helfen.»

Die 27-Jährige möchte nicht klagen. «Im Vergleich zu vielen anderen Menschen bin ich in einer Luxussituation.» Sie habe die Zeit genutzt, um mal wieder zuhause auszumisten und ihr BWL-Studium fortzusetzen. Und das Wichtigste: «Alle aus meiner Grossfamilie sind gesund.»

Auch ihre 86-jährige Grossmutter, die Mujinga vor dem Lockdown gerne auf ihrem Hof besucht hat. «Dass ich das Grosi zurzeit nicht sehen kann, ist sehr schade. Normalerweise sind wir an Ostern immer alle bei ihr zu Besuch, und die Kleinen dürfen ihr Osternest suchen. Das war jetzt leider nicht möglich. In den letzten Wochen habe ich bei diesem schönen Wetter ein paarmal gedacht, wie schön es jetzt bei ihr wäre, draussen in der Natur, direkt am Wald. Jetzt kommunizieren wir halt per Facetime.»

Stets das Positive sehen – das ist Mujinga Kambundji.

Freitag, 8. Mai, 17 Uhr, Raststätte Würenlos AG, Kilometer 746

Geschafft! Ein letzter Zwischenhalt auf unserem Roadtrip durch den Schweizer Sport. Die Begegnungen mit unseren Sportstars waren eindrücklich. «Ich bin in einer Luxussituation», hatte Mujinga Kambundji vor gut zwei Stunden gesagt. Schön, dass sie und die anderen Sportler sich dessen bewusst sind. Wie sie mit der Coronakrise und den Folgen umgehen, ist vorbildlich. Jetzt bleibt nur noch mein Problem mit dem Salat zu lösen. Ja, ich weiss, auch das ist eine Luxussituation ...

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