Beim US-Open in Chambers Bay zeigt Tiger Woods eine Startrunde des Grauens. Er braucht 80 Schläge, das sind 10 mehr als Platzstandard. Als Drittletzter kann er den Cut nicht mehr schaffen. Er notiert Statistik-Werte wie ein Hobbygolfer.
Er verzieht seine Drives, spielt stümperhaft rund ums Grün.
Wie war das doch 1996 bei seinem Start auf der US-Tour? Beim ersten Turnier als Berufsspieler 1996 kassiert Woods gerade mal 2500 Dollar.
Aber er erzielt gleich ein Hole-in-one (mit einem Schlag ins Loch). Und die Worte «Hello world» in die TV-Mikrofone genügen – und Woods ist um 40 Millionen reicher. Weil Top-Sponsoren wie «General Motors», «Titleist», «General Mills», «American Express», «Accenture» und «Nike» den damals 20-Jährigen sofort unter Vertrag nehmen.
Schnell wird er zum besten Spieler, den der Golfsport je gesehen hat. Er gewinnt 79 PGA-Turniere, davon 14 Majors. Total sind 139 Siege. Tiger Woods ist ein Phänomen.
Dank ihm explodieren die Preisgelder auf der US-Tour zwischen 1996 und 2007 von 70 auf 278 Millionen Dollar. «Man sagt zwar, es gäbe nichts Grösseres als das Golfen selbst. Doch Tiger ist grösser», sagt der US-Profi-Golfer John Daly (49).
«Sports Illustrated» vergleicht sein Talent mit der Begabung Mozarts, «Time» seine historische Bedeutung mit der Mahatma Gandhis, und «Business Week» schreibt: «Der Golfsport kann seine Zeitrechnung nun unterteilen in ‹vor Tiger und nach Tiger›.»
Mental der Stärkste
Es gibt Spieler, die weiter und genauer abschlagen. Die besser einlochen. Die mehr Grüns treffen. Und besser als der Tiger aus den Sandbunkern spielen. Doch in der Ergebnis-Statistik spielt er die meisten Birdies, hat den tiefsten Rundenschnitt. Wie das geht? Er ist mental der Stärkste auf dem Platz.
«Auf dem Platz wirkt er unnahbar, arrogant. Aber er ist es nicht», sagt Darren Clarke (46). Der Nordire ist ein Freund – und er versetzt Woods einen der fürchterlichsten Hiebe, 2000 im Final der World Matchplay Championship. Im Lochspiel Mann gegen Mann zieht Tiger deutlich den Kürzeren. Ausgerechnet gegen den damals stark übergewichtigen Briten (135 Kilo), der auf dem Platz genüsslich Zigarren raucht.
Das Finale am Sonntag geht über 2-mal 18 Löcher. Nach der ersten Runde feilt Tiger auf der Range an seinem Schwung. Clarke schaut ihm von der Terrasse des Clubhauses zu. Isst ein Steak, trinkt ein grosses Guinness, legt dann die Beine auf den Tisch und raucht eine Zigarre.
Tiger kann das nicht verstehen. Er ist jeden Morgen als Erster auf der Range, geht mit seinem Caddie als Erster auf die Übungsrunde. Verbringt täglich fünf Stunden im Fitnessraum und bei seinem Physiotherapeuten. Was hat er falsch gemacht? Wie konnte es nun zu diesem
Absturz kommen?
Tiger Woods hat in seiner Profikarriere schon drei Golflehrer verschlissen: Butch Harmon, Hank Haney und Sean Foley. Die Gründe für die Trainerwechsel: Woods ist ein Perfektionist. Gegner sagen, er begnüge sich nicht mehr, die Golfwelt wie in seinen besten Zeiten souverän zu beherrschen. Der TV-Kommentator und Ex-Profi David Feherty sagt: «Tiger begab sich auf die mystische Suche nach dem perfekten Schwung.»
Jetzt arbeitet Tiger mit dem Biomechaniker Chris Como (45). Woods stellt zum vierten Mal sein ganzes Spiel um. Doch es hilft nichts. «Tiger übertrieb das Fitnesstraining, er strapazierte seinen Körper», sagt sein früherer Coach Hank Haney (59).
Die Folgen: Vier Operationen am linken Knie und eine am Rücken. Auf Spitzenniveau spielt sich Golf auf den 30 Zentimeter zwischen den Ohren ab. Tiger ist mental nicht mehr so stark. Er hat vergessen, dass Golf ein Spiel ist, das er nie gewinnen kann. Er kann es nur spielen!
Abschreiben will die langjährige Nummer 1 aber niemand. Weder seine Fans und schon gar nicht die TV-Sender. Woods ist auch als «Hobby-Golfer» immer noch die mit Abstand grösste Zugnummer.