Einst gab es im Fussball den Libero. Den freien Mann hinter der Abwehr. Er war Ausputzer. Aber auch der erste Stratege. Ein Mann mit Defensivqualitäten und gleichzeitig dem Auge für den Spielaufbau.
Eigentlich gibt es im Fussball nur einen Libero. DEN Libero. Und der heisst Franz Beckenbauer. Wenn er in seinen kurzen Hosen den Ball aus der Abwehr nach vorne streichelte, dann war das von einer Eleganz, wie es sie im Fussball von einem Verteidiger zuvor und danach nie gegeben hat. Es ist, als hätte der Herrgott diese Position für den Franz erfunden.
Jetzt ist dieser Freigeist aus dem Freistaat Bayern gestorben. Beckenbauer stirbt nach langer schwerer Krankheit im Alter von 78 Jahren in seiner zweiten Heimat Tirol. Nach Pelé (dem König) und nach Diego Armando Maradona geht mit Kaiser Franz der Dritte, der das vorige Jahrhundert fussballerisch geprägt hat. Beckenbauer ist neben dem vor wenigen Tagen verstorbenen Brasilianer Mario Zagallo und dem Franzosen Didier Deschamps der Einzige, der als Spieler und als Trainer Weltmeister geworden ist.
Der Bub aus dem Münchner Arbeiterviertel
Franz Beckenbauer wird neun Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Münchner Arbeiterviertel Giesing als zweiter Sohn des Postobersekretärs Franz und seiner Frau Antonie geboren. Die Zeitschrift «Spiegel» hat die Tellerwäscherkarriere von Beckenbauer einst so zusammengefasst: «Irgendein Instinkt, irgendeine schwer zu definierende Begabung für bestimmte Bewegungsabläufe hat ihn beizeiten an den Ball gebracht, hat ihn dort festgehalten und damit ferngehalten von einer mittleren und gehobenen Schul- oder Berufsausbildung, hat ihn vielmehr schon als Minderjährigen zum Artisten werden lassen und als solchen hinauf katapultiert in die mit Geld und Glanz verkleidete Zirkuskuppel des Profifussballs.»
Franz wächst mit seinem älteren Bruder Walter in Giesing auf. Er hat nicht das Glamouröse von Günter Netzer. Er, der Bodenständige, wirkt eher etwas bieder und beamtenhaft. Irgendwie bleibt er zeitlebens ein naives grosses Kind, dem das Glück einfach in den Schoss zu fallen scheint. Aber es gehört auch zu seinem Leben, dass er zielsicher in jedes Fettnäpfchen getreten ist. Als vor einigen Jahren Kritik an der Fussball-WM in Katar auftaucht, sagt Beckenbauer: «Ich habe noch keinen einzigen Sklaven in Katar gesehen. Die laufen alle frei herum, weder in Ketten noch gefesselt.»
So war er, der Franz.
Beckenbauer beginnt bei SC München von 1906 mit dem Fussball. Im Jahr 1958 wollte er zum grossen 1860 München wechseln. Aufgrund eines Zwists mit einem Spieler entscheidet er sich kurzfristig anders: Er wechselt stattdessen zu den Bayern. Es ist für die damalige Zeit eher ein Abstieg, denn die Bayern stehen in diesen Jahren noch immer im Schatten der Münchner Löwen. Doch nicht zuletzt dank Beckenbauer verändert sich die Hierarchie im Münchner Fussball und erleben die Bayern ihren grossen Aufschwung. Sie steigen zur führenden und prägenden Kraft im deutschen Fussball auf. 1974 ist für Beckenbauer das erfolgreichste Jahr seiner Karriere. Er wird mit den Bayern Meister, gewinnt den Europacup der Landesmeister und wird mit Deutschland im eigenen Land Weltmeister. Mehr geht nicht.
Sozialer Aufstieg und Luxusleben
Und er klettert parallel zu seiner Traumkarriere die soziale Leiter empor. Nicht zuletzt dank seinem Manager Robert Schwan klingelt die Kasse. Die Kommerzialisierung des Fussballs wird durch das Duo Beckenbauer/Schwan so richtig angeheizt. In Grünwald residiert Beckenbauer in einer Villa mit zehn Zimmern. Sein Teamkollege Gerd Müller, der in einem eher bescheidenen Häuschen lebt, schüttelt darüber nur den Kopf. «Was brauche ich zehn Zimmer. Ich kann ja immer nur in einem Zimmer gleichzeitig sein», sagt er dazu.
Es sind aber auch die Jahre, in denen sich Beckenbauer mit manchen Auftritten der Lächerlichkeit preisgibt. 1973 erscheint der Kinofilm «Libero». Ein Flop ohnegleichen. Erfolgreicher ist einige Jahre zuvor seine erste Schallplatte. «Gute Freunde kann niemand trennen» kommt in der Hitparade auf Platz 31. Legendär ist auch sein erster Werbespot für einen Suppenhersteller. «Kraft in den Teller – Knorr auf dem Tisch». Rund 10'000 Franken erhält Beckenbauer dafür. Es ist auch Schmerzensgeld dafür, dass er sich da und dort als Suppenkasper bezeichnen lassen muss.
1977 «flüchtet» Franz Beckenbauer zu New York Cosmos in die USA. Seine Ehekrise ist in Deutschland Dauerthema, ein geschiedener Kapitän der Nationalmannschaft ist in der damaligen Zeit ein gesellschaftliches Problem. Sein Wechsel vom Münchner Olympiastadion in die amerikanische Fussballprovinz ist verstörend für Fussball-Deutschland. Aber Beckenbauer wird an der Seite von Pelé 1977, 1978 und 1980 Meister in den USA und in die «National Soccer Hall of Fame» aufgenommen.
Annäherungsversuche von Star-Tänzer Nurejew
Und er ist auch Teil der besseren Gesellschaft von New York. Sein Nachbar ist der Tänzer Rudolf Nurejew, der grösste Star des klassischen Balletts. Eines Tages lädt dieser Beckenbauer in ein Restaurant ein. Plötzlich spürt Franz die Hand Nurejews auf seinem Knie und erkennt die Absichten der Verabredung. Beckenbauer klärt die Sache mit dem legendären Satz: «Du, Rudolfo, lass gut sein. Ich bin von der anderen Fakultät.»
Im Herbst der Karriere kehrt Beckenbauer in die Bundesliga zurück und spielt für den HSV. Bevor er nochmals nach New York geht und am 12. September 1983 seine grosse Karriere beendet. Eine Karriere, die er auf Funktionärsstufe nahtlos weiterführt. Als Teamchef führt er Deutschland 1990 in Italien zum Titel. Und wird endgültig zur Lichtgestalt. Franz, der Glückliche.
Das Glück ist flüchtig. Und verlässt ihn auch immer wieder. Beckenbauer war auch das Zugpferd für die Fussball-WM 2006 in Deutschland. Die tolle WM sollte die Krönung seines Wirkens werden. Dass es ein gekauftes Sommermärchen war, wirft einen riesigen Schatten auf sein Wirken. Es ist das dunkelste Kapitel seiner grossen Geschichte.
Sohn Stephan (†) spielte einst für Grenchen
Beckenbauer war auch der Schweiz sehr verbunden. Schon in frühen Jahren hat er seinen Wohnsitz, respektive sein Steuerdomizil in den Kanton Obwalden nach Sarnen verlegt. Sein Sohn Stephan Beckenbauer spielte einst für den FC Grenchen. Er starb bereits mit 46 Jahren an den Folgen eines Hirntumors.
Eine schillernde Karriere, drei Ehen, fünf Kinder, dazu Schlagzeilen wie kaum ein anderer. Franz Beckenbauer hat tiefe Spuren hinterlassen und wird als eine der prägendsten Figuren in die Geschichte des Fussballs eingehen.
«Des Kaisers neue Kleider», heisst ein Märchen von Hans Christian Andersen. Es geht dabei um Leichtgläubigkeit und unkritische Akzeptanz angeblicher Autoritäten. Vielleicht passt dies perfekt zu Franz Beckenbauer. Auch ein Kaiser geht ohne Kleider.
Im populären Satire-Stück «Ein Münchner im Himmel» ist die Hauptfigur Erzengel Aloisius. Jetzt kommt Erzengel Franz dazu. Die Lichtgestalt leuchtet jetzt an einem anderen Ort.