Klischee? Die kamerunische Wahrheit kommt der Vorstellung recht nahe. Wir sind in Mwan, einem Aussenquartier im vierten Arrondissement von Yaoundé. Die Hauptstadt von Kamerun, deren Namen seit ein paar Jahren eingedeutscht Jaunde geschrieben wird. Sie soll zwischen zwei und drei Millionen Einwohner haben. So genau weiss das niemand. Denn durch die Landflucht wachsen die Städte stetig. Slumgebiet nach Slumgebiet entsteht. Auch in Jaunde.
Die schwarzafrikanische Realität der Menschen, die vom Land kommen, um hier einen Job zu finden, ist meistens Lichtjahre von deren Traum entfernt. Armut, Kriminalität und Gelegenheitsjobs kennzeichnen vielmehr den Alltag dieser gefallenen kamerunischen Goldgräber. Möglichkeiten, dieser Tristesse zu entrinnen, gibt es wenige. Eine ist der Fussball.
Die Realität heisst Wellblechhütten
Real Madrid. Barcelona. PSG. So stellen sich die Jungs die finale Verwirklichung ihres Fussballtraums vor. Wie viele der Tausenden Kicker, die ihre Wurzeln beim Espoir FC de Mwan haben (einem Drittligisten im Championat départemental), konnten ihren Traum verwirklichen? «Drei haben es in der Geschichte des Klubs in die erste Liga geschafft», sagt Coach Joseph Ndongo, der die 15- bis 20-Jährigen trainiert. Die kamerunische Eliteliga sei mittlerweile «einigermassen professionell», sagt Ndongo. Reich werde man nicht.
Die Realität ist und bleibt für fast alle aber: Wellblechhütten. So sind die Ziele nun andere. «Viele dieser Kinder mussten die Schule abbrechen, weil die Eltern diese nicht mehr finanzieren konnten. Diesen Kids versuchen wir, eine andere Vision des Lebens zu vermitteln, ihnen aufzuzeigen, dass es einen Job braucht und dass sie im Fussball vor allem eines finden: Leidenschaft.»
Pfützen und Gras auf Roter Erde
Dem Enthusiasmus der Kids tut die verpasste Profikarriere aber keinen Abbruch. Fussballschuhe haben sie alle. In allen Farben. Und selbst Trainingsshirts des Klubs. Und statt Aludosen hat es eine richtige Torumrandung mit Pfosten und Latte. Sogar in der Farbe Weiss. Einzig die Netze fehlen. Doch der Platz … Mannomann! Erde, und diese in Rot. Wie die Kampfbahn Rote Erde in Dortmund, die Heimat des BVB von 1937 bis 1974. Diese hatte ursprünglich diese rote Erde als Spielwiese, ein Abfallprodukt der Verhüttung. In Jaunde ist es der natürliche Untergrund.
Weil es am Vortag geregnet hat – was es im tropischen Klima der Region sehr oft tut – ist die eine Seite von Pfützen durchsetzt. Auf der anderen wuchert Gras aus der roten Erde, weil gleich dahinter Gemüsebeete liegen. Und auf einer weiteren Längsseite ist die natürliche Begrenzung der Abhang Richtung Strasse. Auch dort wird weitergespielt, Linien gibts keine …
Auch der Coach träumt vom Profijob
Joseph stellt die Trainingsleiter und die Hütchen auf den Boden – und los gehts. Und nun siehts fast so aus wie ein Training des FC Engstringen. Ndongo dirigiert. Korrigiert. Zeigt vor. An Leidenschaft mangelt es ihm nicht. Und auch dem Coach im Shirt von Manchester City fehlt es nicht am eigenen grossen Traum. «Klar würde ich gerne Profitrainer werden. Ich habe sogar die kamerunische A-Lizenz erworben, die es mir erlaubt, Teams aus der Eliteliga zu trainieren. Also wenn ein Eliteteam ruft, würde ich meine Dienste und meine Expertise gerne zur Verfügung stellen.»
Die Akademie im «Banditenquartier»
Szenenwechsel. Das Erste, was man auf der kleinen Anhöhe des in der Stadtmitte gelegenen Quartiers Mokolo sieht, ist das gewaltige Kirchgebäude. Sieht nach 70er-Jahren aus. Schmucklos. Aber umso wichtiger für die Leute hier. Die meisten sind sehr gläubig. In einer kleinen Ecke vor dem Kirchgebäude wird eine Freiluft-Messe zelebriert. Dahinter liegt das ebenso imposante Schulgebäude. Dass hier auch Fussball gespielt wird (und auch hier auf roter Erde), ist einem Schweizer zu verdanken: Der Genfer Anwalt Emmanuel Emery hat die Non-Profit Talent Sport Academy 2017 ins Leben gerufen.
Sisyphusarbeit Pünklichkeits-Vermittlung
Sein Mann vor Ort heisst Jean-Marie Mongo. Ein verlässlicher Kameruner, der SMS schnell beantwortet und pünktlich ist. Keine Selbstverständlichkeit hier, denn Zeit hat einen komplett anderen Stellenwert als bei uns. Es wird verschwenderisch damit umgegangen. Wartezeiten von ein, zwei Stunden sind nicht selten. Und das ist Jean-Marie ein Dorn im Auge: «Der Respekt vor der Uhrzeit ist ein grosses Problem. Doch wer die Zeit nicht respektiert, respektiert auch das Leben nicht. Wenn Trainingsstart um 16 Uhr ist, muss man um 16 Uhr bereit sein. Pünktlichkeit ist die Mutter des Erfolgs. Doch der Afrikaner hat tausend Entschuldigungen, um nicht pünktlich sein zu müssen.» Eine Sisyphusarbeit, der sich Jean-Marie da verschrieben hat.
Kriminell und populär gleichzeitig
Doch das ist nur eines der Ziele, die Jean-Marie hat. «Klar versuche ich die Jungs fussballerisch besser zu machen. Aber Mokolo ist eines der heissesten Quartiere der Stadt. Man kennt es auch als Quartier der Strassenjungs oder der Banditen. Da sollte man nicht alleine hingehen, wenn man sich nicht auskennt. Und dennoch ist es eines der populärsten Quartiere des Landes, denn hier gibt es den grössten Markt von ganz Zentralafrika. Dank uns ist dieses Quartier besser geworden.»
Kapstadt-Kicker Ambina ist der Star
Die jungen Kicker stammten oft aus armen Familien, viele seien Waisen, erzählt Jean-Marie weiter. «Klar haben wir sportliche Ambitionen. Aber primär gilt es, diese Jungs einzubetten und Sozialhilfe zu leisten. Viele leben in den Hütten rund um die Akademie, weil sie so besser behütet sind als in ihren Familien, die es am liebsten sähen, wenn sie arbeiten würden, um Geld zu verdienen. Weshalb sie sagen, Fussball sei nur für Missratene und Schurken.» Der Traum, den die Kids hier leben würden, sei nicht in erster Linie der, Fussballprofi zu werden, sondern ein Mann. Was aber die Akademie nicht daran hindere, auch bekannte Fussballer zu «produzieren.» Das heisse Quartier habe schon Hunderte Profi-Fussballer hervorgebracht. «Auch unsere junge Akademie. So wie Brice Ambina, der in Südafrika spielt beim Cape Town City FC, aktueller U23-Nationalspieler und auf dem Sprung ist ins A-Team von Rigobert Song ist.»
Ihr Held heisst Aboubakar, nicht Choupo-Moting
Den kennen die Jungs hier natürlich. Aber einen Schweizer Spieler? Fehlanzeige. Ohnehin gibts für sie nur zwei Dinge: Die ganz grossen Namen. Ronaldo, Messi, Mbappé. Und die eigenen Helden. Die würden ohnehin alle Spiele gewinnen. Es findet sich kein Einziger, der sagt, Kamerun werde nicht Weltmeister. Auch die Meinung nach dem Star der unbezähmbaren Löwen ist einhellig. Und es ist nicht etwa der Name von Bayern-Torjäger Eric Maxim Choupo-Moting, der am häufigsten fällt, sondern jener von Vincent Aboubakar. Jener Mann, der Kamerun 2017 zum Sieg am Afrika-Cup schoss und heuer am selben Anlass Torschützenkönig war. Da spielt es keine Rolle, dass sich Aboubakar seine Karriere in Saudi-Arabien vergolden lässt.
Mittlerweile dunkelts ein über dem heissesten Quartier von Jaunde. Die Kulisse mutiert zu kitschig-schön. Das Training neigt sich dem Ende entgegen. Jean-Marie lässt ein Gruppenbild machen mit den Gästen aus der Schweiz. Die Kids stellen sich nach Farben auf. Und schmettern aus vollen Kehlen ihren WM-Slogan in die smog-geschwängerte Nachtluft hinaus: «Allez le Cameroun!»