Pfarrer Josef Hochstrasser über Gott und Fussball
«Jesus hätte die WM in Katar nie boykottiert»

Pfarrer Hochstrasser sagt, was Fifa-Boss Infantino vom Papst unterscheidet, weshalb ihn die WM-Berichterstattung nervte und warum die Kirchen leerer und die Stadien voller werden.
Publiziert: 24.12.2022 um 16:59 Uhr
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Aktualisiert: 24.12.2022 um 17:29 Uhr
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Pfarrer Josef Hochstrasser sagt, dass für viele Menschen der Fussball durchaus eine Religion ist.
Foto: Sabine Wunderlin
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Michael WegmannStv. Fussballchef

Herr Hochstrasser, an der WM sah man quasi alle Spieler und Fans beten. Warum treten eigentlich laufend Mitglieder aus den Kirchen aus?
Es liegt wahrscheinlich daran, dass es in den Kirchen nicht viel zum Jubeln gibt. Wobei, das gäbe es schon. Falls man sich an denjenigen erinnern würde, der jetzt Geburtstag feiert. Jesus von Nazareth war ein fantastischer Mensch. Ich stelle mir vor, wie es damals eine «La-Ola-Welle» nach der anderen für ihn gegeben hätte. Dieses Feuer ist mittlerweile fast erloschen. Sowohl in der katholischen, als auch in der reformierten Kirchen.

Wie weh tut das?
Natürlich tut es weh.

Bräuchten Sie gegen den Mitgliederschwund einen Messi auf der Kanzel?
Nicht unbedingt. Der Pfarrer sollte nicht im Zentrum stehen.

Was kann die Kirche vom Fussball lernen?
Der Fussball ist herrlich einfach – für alle zugänglich. Wäre er plötzlich sehr theoretisch und kompliziert, würde das Interesse abnehmen. Leider sind viele Pfarrerinnen und Pfarrer, kaum stehen sie auf der Kanzel, nicht mehr authentisch. Sie bedienen sich plötzlich einer sakralen Sprache, die nur die wenigsten verstehen. Zudem würde den Gottesdiensten mehr Emotionen guttun, mehr Spontaneität. Bei einem Fussballspiel weiss man nicht, wie es ausgeht. Bei einem Gottesdienst leider schon.

Wie stehen Sie zur Vergöttlichung von Fussballern? Ist das aus Sicht eines Pfarrers nicht Gotteslästerung?
Nein. Vielleicht ist meine Antwort jetzt ein wenig blasphemisch: Ich finde, Jesus kann man gut in eine Reihe mit Messi, Maradona und Pelé einordnen. Das sind alles Menschen, die eine besondere Sehnsucht in den Menschen auslösen. Fussballbegeisterte Menschen würden gerne so kicken können wie Messi. Bei den Menschen vor 2000 Jahren war es dasselbe: Man wollte so gerecht, so grosszügig sein, wie Jesus. Der gemeinsame Nenner ist die Sehnsucht, die sie in den Menschen wecken.

Dann ist Fussball eine Religion?
Für gewisse Menschen durchaus. Ich erinnere mich gerne an eine ältere Frau in Dortmund, die meinte: «Für mich ist der BVB meine Religion. Weil er meinem Leben Sinn gibt.» Jesus ist ein Anker, er hat den Menschen geholfen, ihrem Leben einen Sinn gegeben. Aber vielen Menschen hilft auch Messi oder Maradona über ihre Probleme hinweg.

Dann wäre Fifa-Boss Gianni Infantino ja mit Papst Franziskus zu vergleichen.
Von den Funktionen her und vom Stellenwert her sind Papst Franziskus und Herr Infantino absolut zu vergleichen. Wobei sicher nicht vom Inhalt, den sie vermitteln.

Josef Hochstrasser: Kritischer Theologe

Josef Hochstrasser ist 1947 geboren, in Ebikon LU aufgewachsen, erhielt 1973 die katholische Priesterweihe, verliebte sich wenig später und heiratete. Von der katholischen Kirche erhielt er ein Berufsverbot. Später liess er sich zum reformierten Priester ordinieren und unterrichtete an der Kantonsschule Zug Religion. Hochstrasser ist auch Autor, er veröffentlichte unter anderem eine Biografie über den früheren Fussball-Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld.

Josef Hochstrasser ist 1947 geboren, in Ebikon LU aufgewachsen, erhielt 1973 die katholische Priesterweihe, verliebte sich wenig später und heiratete. Von der katholischen Kirche erhielt er ein Berufsverbot. Später liess er sich zum reformierten Priester ordinieren und unterrichtete an der Kantonsschule Zug Religion. Hochstrasser ist auch Autor, er veröffentlichte unter anderem eine Biografie über den früheren Fussball-Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld.

Infantino schlug am G20-Gipfel den Politikern vor, der Ukraine-Krieg solle für die Zeit während der WM doch pausieren.
Das war nicht nur ziemlich naiv, das war vermessen. Da überschätzt sich Infantino gewaltig. Zudem ist es auch nicht anständig gegenüber den Menschen, die unter dem Krieg leiden.

Seine Eröffnungsrede, in der er sagte, er fühle sich als Homosexueller, als Araber, als Gastarbeiter und Behinderter, sorgte für Entrüstung. Bei Ihnen auch?
Er wollte damit ausdrücken, dass er sich mit allen Menschen identifiziere. Auch mit Minderheiten oder mit Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben. Seine Idee war gut, seine Ausführung aber schwach. Seine Rede löste bei mir Kopfschütteln aus.

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«Infantinos Rede löste bei mir Kopfschütteln aus»
Pfarrer Josef Hochstrasser
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Sie sind Fussball-Fan brauchen. Machen Sie in Ihren Predigten auch Fussball-Vergleiche?
Ja, ich brauche den Fussball ab und zu als Einstieg für eine Predigt. Gerade letzten Sonntag, am Finaltag. Mein Thema der Predigt war: «Was hätte Jesus zu einem WM-Boykott gemeint?»

Und was hätte Jesus gemeint?
In keiner Sekunde seines Lebens hätte Jesus einen Boykott unterschrieben. Boykottiert man jemanden, heisst das: Ich will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Jesus aber hat sich mit allen Menschen getroffen, egal wie schlecht diese waren. Er redet mit den Pharisäern. Das waren konservative Juden, die das Gesetz des Moses höher einstuften, als das Wohl der Menschen. Jesus hat mit den imperialistischen Römern geredet. Er hat sich mit ihnen angelegt und den Diskurs gesucht. Ein Boykott führt oft zu Kriegen. Ich hätte mir für Katar das Gegenteil gewünscht.

Was genau?
Diese WM wäre eine einmalige Chance gewesen, mit einem muslimisch geprägten Land in Kontakt zu treten. Mit der Kultur, der Religion. Ich hätte mir an der WM offizielle Begleitveranstaltungen gewünscht, dass man Foren über die arabische Kultur und die muslimische Religion abgehalten hätte. Neugier wäre viel wichtiger als der Boykott.

Im Vorfeld waren in Westeuropa die fehlenden Menschenrechte in Katar das vorherrschende Thema. War die Berichterstattung aus christlicher Sicht übertrieben?
Völlig. Wir führten uns auf, als wären wir die Guten, die vorbildlich leben, weder Korruption zulassen noch Menschenrechte missachten. Und wir zeigten auf die Unzulänglichkeiten in Katar, um uns noch besser zu machen. Dabei haben wir, weiss Gott, genug Dreck vor der eigenen Tür, den wir erst sauber machen müssten. Unser Verhalten erinnert an das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner im Neuen Testament. Der Westen hat sich aufgeführt, wie der Pharisäer. Aber wissen Sie, was mir Freude macht?

Der Pharisäer und der Zöllner

Das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner

(Neues Testament, Evangelium nach Lukas)

Ein Pharisäer und ein Zöllner gehen in den Tempel zu Jerusalem, um zu beten. Der Pharisäer dankt Gott dafür, dass er Pharisäer ist. Er hebt hervor, wie vorbildlich er sich verhält. Nicht so wie etwa Räuber, Ehebrecher oder eben der Zöllner neben ihm. Er lobt seine eigenen Leistungen beim Fasten und beim Geben des Zehnten und sieht keinen Anlass, sich vor dem Höchsten als Sünder zu bekennen. Der Zöllner hingegen wagt beim Gebet nicht aufzusehen und bittet Gott darum, ihm, dem Sünder, gnädig zu sein. Im Gegensatz zum Pharisäer ist er sich seiner Sündhaftigkeit bewusst und voller Demut. Das Gleichnis wird abgeschlossen von den Worten Jesu, der erklärt, warum der Zöllner Gott näher stehe als der Pharisäer. Er meinte, jeder, der sich selbst erhöhe, werde erniedrigt werden, wer sich aber selbst erniedrige, werde erhöht werden.

Das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner

(Neues Testament, Evangelium nach Lukas)

Ein Pharisäer und ein Zöllner gehen in den Tempel zu Jerusalem, um zu beten. Der Pharisäer dankt Gott dafür, dass er Pharisäer ist. Er hebt hervor, wie vorbildlich er sich verhält. Nicht so wie etwa Räuber, Ehebrecher oder eben der Zöllner neben ihm. Er lobt seine eigenen Leistungen beim Fasten und beim Geben des Zehnten und sieht keinen Anlass, sich vor dem Höchsten als Sünder zu bekennen. Der Zöllner hingegen wagt beim Gebet nicht aufzusehen und bittet Gott darum, ihm, dem Sünder, gnädig zu sein. Im Gegensatz zum Pharisäer ist er sich seiner Sündhaftigkeit bewusst und voller Demut. Das Gleichnis wird abgeschlossen von den Worten Jesu, der erklärt, warum der Zöllner Gott näher stehe als der Pharisäer. Er meinte, jeder, der sich selbst erhöhe, werde erniedrigt werden, wer sich aber selbst erniedrige, werde erhöht werden.

Sagen Sie es.
Dieses Beispiel zeigt, wie hochaktuell die Bibel auch 2022 Jahre nach der Geburt von Jesus noch ist.

Sie als YB-Fan haben mit Erich Hänzi ja auch einen Fussballgott.
Stimmt (lacht). Das ist doch schön, aber natürlich mit einem Augenzwinkern zu nehmen. Wir in der Schweiz verehren keine Fussballgötter, wie beispielsweise die Brasilianer oder die Argentinier. Uns geht es zu gut, es fehlt die Sehnsucht für einen solchen Hype.

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«Wenn es den Menschen schlechter geht, werden die Kirchen voller»
Pfarrer Josef Hochstrasser
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Ist das ein Grund, weshalb in der Schweiz die Kirchen oft leer bleiben?
Mit Sicherheit. Wenn es den Menschen schlechter geht, sind die Kirchen voller. Ich erinnere mich noch bestens: Nach dem schrecklichen Attentat in Zug im September 2001 waren während drei Wochen die Kirchen voll. Danach haben sie sich wieder geleert.

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