Gegner des Videobeweises gibts viele. Der härteste ist wohl der ehemalige Fifa-Präsident Sepp Blatter. Schon bevor der Internationale Football Association Board (IFAB) im März den Videobeweis beschlossen hat, sagte Blatter: «Man kann die WM doch nicht als Versuchskaninchen für einen solch schwerwiegenden Eingriff ins Spielgeschehen benutzen.»
Heute startet die WM – und der Videobeweis. Blatter sagt im Sonderheft von «11 Freunde»: «Da stehen mir meine letzten Haare zu Berge. Wie kann man etwas zulassen, das nicht ausgereift ist? Er wird die Struktur des Fussballs verändern.»
Er denkt, dass es zu «skurrilen Situationen» kommen werde, «dass ein Spieler ein wunderbares Tor erzielt und sich genau überlegt, ob er jubelt oder erst abwartet, was das Fernsehen entscheidet. Und wenn es dann ein Tor ist, wird die Freude schon nicht mehr so gross sein».
Andere lästern wiederum über den Spielfluss, der dabei verloren geht. Oder über WM-Schiedsrichter, die keine Erfahrung mit VAR – Video Assistant Referee wird der Videobeweis offiziell genannt – vorweisen können.
Fifa-Präsident Gianni Infantino sagt: «Vor zwei Jahren war ich auch noch sehr skeptisch. Aber ich habe meine Meinung mittlerweile komplett geändert. Wir haben VAR mittlerweile in über 1000 offiziellen Spielen eingesetzt. Das Resultat ist eindeutig. Ohne Videobeweis gibts in jedem dritten Spiel einen Fehlentscheid. Mit VAR in jedem 19. Spiel. Es ist also eine Hilfe für die Schiedsrichter, und wir werden keine krassen Fehlentscheide mehr sehen.»
Das Argument, dass der Spielfluss verloren gehe, lässt er nicht gelten. Infantino: «Wir verlieren im Schnitt sieben Minuten bei Einwürfen. Im Schnitt dauert es eine Minute, einen Entscheid zu korrigieren.»
Dass Fifa-Schiri-Boss Massimo Busacca ein Befürworter von VAR ist, überrascht nicht, schliesslich hat der Tessiner das Projekt auch vorangetrieben. Busacca ist zuversichtlich, dass in Russland alles klappt: «Mit dem Videobeweis wird der Fussball korrekter. Wir sind bereit und haben uns perfekt vorbereitet.» Ab heute werden wir wissen, wer richtigliegt. Blatter und die VAR-Gegner oder Infantino und die Befürworter.
Was ist VAR?
Der Videobeweis wird VAR (Video Assistant Referee) genannt und kommt erstmals an einer WM zum Einsatz. Ein Assistent wird die Spiele in einem Raum mit mehreren Bildschirmen verfolgen. Erkennt er einen klaren Fehlentscheid, meldet er sich beim Schiedsrichter. Dieser kann sich die Szene am Spielfeldrand nochmals ansehen und seinen Entscheid – falls nötig – revidieren.
Wo sitzt der Video-Assistent?
Im internationalen Sendezentrum in Moskau. Er kann auf die Hilfe von drei Assistenten zählen. Der Video-Assistent hat die Perspektive der Hauptkamera auf einem Bildschirm, zudem steht ihm ein viergeteilter Bildschirm mit weiteren Perspektiven zur Verfügung – und er kommuniziert mit dem Schiedsrichter. Sein erster Assistent verfolgt weiter die Hauptkamera, falls ein Zwischenfall gerade in Prüfung ist. Der zweite Assistent ist alleine für Abseits zuständig. Der dritte behält das TV-Programm im Auge und begleitet die Kommunikation.
Wer sind die Video-Assistenten?
Die Fifa hat 13 Video-Assistenten bestimmt. Diese kommen ausschliesslich in dieser Funktion zum Einsatz, werden also keine Spiele leiten.
Wann darf der Video-Assistent eingreifen?
Nur bei offensichtlichen Fehlern des Schiedsrichters, in folgenden vier Situationen:
- Bei Toren oder Vorfällen, die zu einem Tor führen.
- Bei Penalty-Szenen, die nicht geahndet oder falsch taxiert wurden.
- Bei Vorfällen, die zu einer Roten Karte führen.
- Bei Verwechslungen, wenn zum Beispiel der falsche Akteur des Feldes verwiesen wird.
Welche Optionen hat der Schiedsrichter?
Er kann den Hinweis des VAR zum Entscheid nützen. Er kann sich aber auch die strittige Szene selbst anschauen. Natürlich kann der Referee bei Zweifeln auch selbst den Videobeweis anfordern. Den definitiven Entscheid über eine Szene fällt nur er.
Haben die Schiedsrichter schon Erfahrungen gesammelt?
Die Fifa hat den Videobeweis am Confed Cup 2017, der U20-WM 2017 und an der Klub-WM 2016 und 2017 getestet. Doch es sind viele Schiedsrichter dabei, die kaum Erfahrung mit VAR vorweisen können. Die zurzeit einzigen Ligen, die dauerhaft in allen Spielen mit dem Videobeweis arbeiten, sind Australien, Belgien, Italien, Südkorea, Polen, Portugal, die USA und Deutschland.
Was ändert sich für den Zuschauer?
Die Fifa will eine entscheidende Veränderung beim Videobeweis einleiten. Sowohl im Fernsehsignal als auch auf den Grossbildschirmen im Stadion soll ein Fifa-Mitarbeiter über ein Tablet mit Grafiken über die einzelnen Schritte aufklären. Er soll dabei mit Klicks auf verschiedene Elemente zeigen, was der Grund und der Ausgang einer Prüfung durch den Video-Assistenten sind. Mit seinem Tablet kann er sich in das Fernsehsignal einschalten.
Statistiken zum VAR
Die Uni Leuven (Be) untersuchte bis Anfang 2018 804 Spiele weltweit, bei denen der Videobeweis zum Einsatz kam. Die wichtigsten Erkenntnisse:
- 1319 Penaltys wurden überprüft. 72 gegeben, 39 zurückgenommen.
- 929 Tore wurden gecheckt. 13 gegeben, 53 zurückgenommen.
- 1669 mögliche Rote Karten wurden nochmals angeschaut. 57 nachträglich gegeben, 3 zurückgenommen
- 804 Spiele wurden untersucht. In 553 wurde der Video-Schiri nicht benötigt. In 209 einmal, in 39 zweimal, in 3 Partien dreimal.
- 71 Mal führte der Video-Beweis zu einer anderen Punktevergabe.
- 98,9 Prozent. So oft entschieden die Schiris mit dem Video-Assistenten richtig. Ohne lag die Quote bei 93 Prozent.