Viel Zeit hat Hakan Yakin (45) nach dem «Blick Kick» nicht mehr. Er muss seinen zwölfjährigen Sohn Diego zu einem Fussballspiel fahren. «Ein paar Minuten liegen drin», sagt der jüngere Bruder von Nati-Trainer Murat lachend. Doch schon nach wenigen Sekunden klingelt sein Handy. Diego will wissen, wann er zu Hause sei, weil er doch noch was essen müsste. «Ich bin in ein paar Minuten da. Mach doch mal Penne.» (…) «Ja. Das hast du doch auch schon gemacht. Koche Wasser in einer Pfanne, ein wenig Salz hinzu und dann die Penne rein …»
Hakan Yakin, haben Sie den Sieg gegen die Serben zusammen mit der Familie zu Hause auf dem Sofa verfolgt?
Hakan Yakin: Nein, wir haben das Spiel mit ein paar Kumpels und Kolleginnen in der «Yakin-Arena» geschaut.
Schauen Sie nicht lieber in Ruhe?
Eigentlich schon. Aber ich habe mich in eine Ecke verzogen, so wars ganz okay.
Können Sie als Bruder des Nati-Trainers eigentlich zurzeit noch in Ruhe einkaufen oder werden Sie immer auf Aufstellungen und Taktik angesprochen?
Ich höre schon sehr oft, welchen Spieler mein Bruder doch eigentlich aufstellen sollte und weshalb. Aber nicht nur von fremden Menschen, auch aus unserem Kollegenkreis. Sehen Sie mal, wie viele Aufstellungsvorschläge ich per «WhatsApp» bekommen habe.
Yakin zeigt diverse Screenshots vom «Murimat» auf Blick.ch, auf welchem Fans vor den Spielen ihre Aufstellung und Taktik festlegen können. «Ich habe immer nur mit einem Wort geantwortet», sagt er. «Mit: falsch!»
Haben Sie auch den «Murimat» ausgefüllt, oder wissen Sie immer schon im Voraus, wie Ihr Bruder spielen lässt?
Ich wusste, wie er gegen Serbien spielen lassen will, dazu musste ich nicht anrufen. Wobei man bei Muri eigentlich nie sicher sein kann. Er lässt sich oft auch von seiner Intuition leiten. Als er noch Schaffhausen-Trainer war und ich sein Assistent, habe ich vor einem Spiel das Einlaufen auf ein 4-4-2-System vorbereitet, wie wir es immer gespielt haben. Dann ist er gekommen und meinte, er wolle nun mit Dreierabwehr spielen. Er hat anscheinend während der Autofahrt von Zürich nach Schaffhausen entschieden, das System zu wechseln.
Und?
Wir haben gewonnen. Und danach nach sechs Spielen 18 Punkte. Alle im neuen System. Typisch Muri eben!
Was ist typisch Muri?
Er entscheidet ganz viel auch nach Intuition, nach Gefühl. Er ist kein Laptop-Trainer, der nach Lauf- und Fitness-Werten aufstellt. Das soll jetzt ja nicht wertend oder beleidigend rüberkommen.
Telefonieren Sie regelmässig zusammen?
Ab und zu. Wir schreiben uns mehr. Dabei geht es selten um taktische Dinge oder Aufstellungen, sondern mehr um Privates. Muri braucht keine Tipps, auch nicht von mir. Er weiss ganz genau, was er tun will. Er liest zwar alles, lässt sich aber nicht beeinflussen.
Was zeichnet ihn aus?
Seine Intuition, sein Bauchgefühl, er lebt den Fussball, hat den Instinkt. Er kann ein Spiel perfekt lesen und innert kürzester Zeit reagieren. Er geht nicht nach einem Schema vor, ist in seinen Entscheidungen nicht berechenbar. Diese Qualität haben wenige Trainer. Er macht sich so viele Gedanken über den Gegner, über die eigenen Mitspieler, über alles. Aber er ist nicht der Typ, der dazu zwölf Stunden im Trainerbüro sitzen muss.
Also Sie meinen, dass er dabei in Doha durchaus auch mal auf einem Golfplatz stehen könnte?
Ja. Warum nicht? Er wird oft dargestellt, als wäre er faul oder bequem. Aber er holt vielleicht aus weniger mehr heraus als andere Trainer. Kombiniert auch vielleicht mal Nützliches mit Angenehmen. Mein Tipp: Lasst Muri einfach machen, dann kommts gut. Will man ihm Dinge vorschreiben, kann er auch zumachen.
Das Telefon klingelt erneut. Yakin schmunzelt, sagt: «Hoi Diego …» (…) «Nein, zwei Löffel Salz reichen. Dann die Penne rein. Diego, du schaffst das! Ich komme so rasch wie möglich.»
Sind Sie ein ähnlicher Trainer wie Murat?
Ich habe sicher viel von ihm gelernt und profitiert. Aber ich merkte rasch, dass ich ihn nicht kopieren kann. Muri kann man nicht kopieren.
Und von der Spielphilosophie her?
Für mich ist es wichtiger, dass wir ein Tor mehr als der Gegner schiessen. Für ihn muss hinten erst einmal die Null stehen. Das wurde ihm früher ja auch ab und zu vorgeworfen, den Leuten war seine Spielphilosophie zu wenig spektakulär. Erfolgreich war er aber immer.
Denis Zakaria ist nach den ersten beiden Partien etwas unruhig geworden. Hat er ihn deshalb gegen Serbien eingewechselt?
Ganz sicher nicht, das interessiert ihn nicht. Muri wechselt keinen Spieler ein, um diesen zufriedenzustellen. Bei ihm hats keinen Platz für solche Befindlichkeiten. Er ordnet alles dem Erfolg unter. Und wenn es mal einen grossen Namen trifft, trifft es halt einen grossen Namen. Shaq liess er gegen Brasilien auch draussen.
Die öffentliche Kommunikation war, dass Shaqiri Muskelbeschwerden hatte.
… Stimmt. (Lacht.)
Warum hat Ihr Bruder ihn gegen Brasilien geschont?
Da ging es darum, das Spiel nicht zu verlieren. Muri wollte kompakt und solidarisch verteidigen. Shaq ist der Mann für die speziellen Momente in der Offensive, wie er gegen die Serben wieder einmal eindrücklich gezeigt hat.
Von aussen wirkts, als wäre Murat immer die Ruhe selbst. Können Sie seine Gemütsregungen lesen?
Bisher gab es nur eine einzige Situation, welche ihn aus der Ruhe gebracht hat.
Welche?
Das Tor von Brasilien. Man sah ihn nach dem Tor, wie er einfach dastand und in den Himmel schaute. Da fühlte ich so richtig mit ihm. Das hat ihn extrem genervt. Sein Match-Plan war perfekt. Es ist lange alles aufgegangen. Dann wurde kurz vor Schluss alles über den Haufen geworfen. Er tat mir echt leid.
Beim hitzigen Spiel gegen Serbien wirkte er auch während des zwischenzeitlichen Rückstands wie ein Zen-Meister. Hat das getäuscht?
Nein. Vor allem die ersten 15 Minuten muss man gar nicht mit ihm reden. Da checkt er das ganze Spielfeld ab. Schaut, wo die freien Räume sind. Wie die Gegner stehen. Wo ihre Schwächen sind. Dann beginnt er, gewisse Dinge zu ändern. So hat er auch Schwachstellen der Serben schnell ausgemacht: Über die Seiten liessen sie uns systembedingt sehr viele Freiräume. Muri ist während den Partien immer sehr ruhig und fokussiert.
Er hätte sich wohl nicht so provozieren lassen wie Captain Xhaka und zu einer solchen Geste hinreissen lassen, oder?
Muri nicht. Aber er wird für Xhakas Reaktionen ein gewisses Verständnis aufbringen, weil er mich kennt. Ich war ein Typ wie Xhaka. Emotional und heissblütig. Muri war eigentlich immer schon so abgeklärt und cool, auch als Spieler.
Murat sagte sogar, dass Granit ihn an Sie erinnern würde. Müssen Sie ihm manchmal Granit erklären?
Nein. Er kennt Granit und er kennt mich. Er weiss genau, wie wir ticken. Dass wir auch mal Dinge sagen, um zu provozieren. Muri weiss, wie man mit Spielern wie Granit und mir umgeht.
Das heisst, Sie können Xhakas Griff in den Schritt verstehen?
Sagen wir es so: Es war nicht gut, aber ich kann es nachvollziehen. Der Druck an einer WM, alle Augen auf dich gerichtet, diese Vorgeschichte, die ständigen Provokationen, dann das Spiel, die Zweikämpfe. Da kommt schon ganz viel zusammen.
Was trauen Sie der Nati gegen Portugal zu?
Die Tagesform wird entscheiden. Mit unseren Qualitäten müssen wir uns nicht verstecken und ohne Angst ins Spiel gehen. Aber klar: Wenn Portugal aufdreht, wirds schwierig.
Murat wollte gerne Ihr Mami Emine fürs Brasilien-Spiel einfliegen lassen …
… Das wäre schön gewesen, sie ist ja grosser Brasilien-Fan. Leider hats nicht geklappt. Die Strapazen wären für sie zu gross gewesen. Sie wird ja jetzt bald 90.
Und wann reisen Sie nach Katar, um die Nati vor Ort zu unterstützen?
Ich fliege erst für den Final. Davor habe ich leider keine Zeit. Ich fliege in die Türkei an einen Workshop für mein Trainer-Diplom. Also hoffe ich, dass mein Bruder und die Nati bis ganz am Ende in Katar bleiben. (Lacht.)
Und ein seriöser Weltmeister-Tipp?
Müsste ich mich festlegen, dann Brasilien. Auch Argentinien und Frankreich sind heiss.
Nun muss Yakin aber los. Zum Essen kommt er zu spät. Denn Diego hat zwar nicht mehr angerufen, aber ein Foto von seinem Teller Penne geschickt. Nicht ganz ohne Stolz zeigt Papi Yakin das Foto. «Das hat er gut hingekriegt.»