Unser Haus, ein alter Bauernhof in Basel, hatte keine Heizung. Nur ein grosses Cheminée. Mein älterer Bruder beklagte sich immer über die Kälte. Sein Zimmer war im oberen Stock, weg vom Feuer. Wenn er im Winter schlafen wollte, brauchte er fünf Decken.
Meine Familie verliess den Kosovo vor Kriegsausbruch, ich war vier. Meine Eltern versuchten, sich in der Schweiz mit mir und meinen beiden Brüdern ein Leben aufzubauen. Es war nicht einfach. Mein Vater sprach kein Schweizerdeutsch, spülte erst Geschirr im Restaurant, dann arbeitete er im Strassenbau. Meine Mutter reinigte Büros.
Die Schweiz ist sehr teuer für alle. Aber für meine Eltern war es noch ein Stück schwieriger, weil sie immer Geld in den Kosovo zu Verwandten schickten. Am Anfang flogen wir jedes Jahr zu ihnen. Mein Vater sagte: «Im Flugzeug bist du immer ein böser Junge. Kletterst über die Sitze und berührst die Leute hinter uns. Du bist nie ruhig!»
Der richtige Ronaldo war mein Idol
Als der Krieg begann, wurde es unmöglich, zurückzugehen. Das Haus meines Onkels brannte bis auf die Grundmauern nieder. Mein Vater schickte so viel Geld, wie er konnte. Also hatten wir nie welches übrig, ausser für eine Sache am Geburtstag. Ronaldo war mein Idol. Der richtige Ronaldo. Er war magisch für mich. Als er im WM-Final 1998 verletzt war und Brasilien gegen Frankreich verlor, weinte und weinte ich. Ich war so traurig für ihn.
Mein 7. Geburtstag war drei Monate später, und ich sagte meiner Mutter jeden Tag: «Alles, was ich mir zum Geburtstag wünsche, ist ein Ronaldo-Shirt.» Ich bekam eines. Ein Fake-Shirt von einem dieser Märkte. Meine Eltern hatten nicht das Geld, ein echtes zu kaufen, aber es war mir egal. Es war der schönste Tag in meinem Leben, ich habe es zehn Tage am Stück getragen.
Ich denke nicht, dass die Kinder in der Schule meine Leidenschaft für Fussball verstanden. In der Schweiz ist Fussball ein Sport. Nicht ein Leben wie an anderen Orten. Vier Jahre später, während der WM 2002, schnitt sich Ronaldo diesen Dreiecks-Haarschnitt. Ich ging zum Coiffeur und sagte: «Mach mir die Ronaldo-Frisur.» Ich hatte blonde Locken damals, es sah verrückt aus. In der Schule sahen mich alle an und fragten sich: «Was hat der Typ bloss gemacht?» Mir wars egal. So war ich nun mal.
Meine Schule war im schönen Teil der Stadt, aber mein Haus nur fünf Minuten zu Fuss vom schlimmen entfernt. Ich weiss, die Leute denken, die Schweiz ist schön, und das meiste davon ist es auch. Aber in diesem Park war es verrückt. Alle Mannschaften waren wie die Vereinten Nationen. Türken, Afrikaner, Serben, Albaner, alles.
«Verdammt, das ist der Junge aus Basel.»
Und es war nicht nur Fussball, man hörte auch Hip-Hop oder Rap. Ich lernte als kleiner Junge, gegen Männer zu spielen, und wurde nie verprügelt. Ich wusste immer, dass ich die Klappe halten muss. Als ich 14 Jahre alt war, spielte ich für das Jugendteam von Basel, und wir spielten den Nike-Cup in Prag. Das Problem war, dass ich einige Tage in der Schule fehlen würde. Der Lehrer sagte Nein.
In der Schweiz sind Lehrer streng, wenns um die Schule geht. Ich dachte, Shit, dann muss ich mich wohl krankmelden ... Also brachte ich meine Mutter dazu, der Schule zu sagen, ich hätte Fieber oder so etwas, und ging nach Prag. Ich spielte wirklich, wirklich gut, und es war das erste Mal, dass Kinder aus anderen Ländern staunten und sagten: «Verdammt, das ist der Junge aus Basel.» Es war ein überragendes Gefühl.
Wir flogen nach Hause, und ich ging am Montag zur Schule. Mein Lehrer sagte sofort: «Xherdan, komm her!» Er holte die Zeitung, sagte: «Oh, du warst krank?» Auf der Frontseite war ein Foto von mir, lächelnd mit dem Pokal für den besten Spieler des Turniers ... Ich bekam viel Aufmerksamkeit nach dem Turnier, aber Geld blieb ein grosses Problem für meine Familie, weil auch meine beiden Brüder für Basel spielten. So kostete es immer für drei.
Als ich 16 war, hatten wir ein Trainingscamp in Spanien, es kostete 700 Franken. Mein Vater kam und sagte: «Schau, es ist unmöglich, wir können es nicht bezahlen.» Meine Brüder und ich nahmen kleine Jobs an, um es uns leisten zu können. Ich mähte etwa drei Wochen lang Rasen in der Nachbarschaft. Irgendwie brachten wir das Geld zusammen.
Die Schweiz gab meiner Familie alles, und ich versuche, alles für die Nati zu geben
Meine grösste Angst war es, dass die Teamkollegen herausfinden, dass wir es nicht bezahlen können. Man weiss, wie Kinder mobben und sich über einen lustig machen können, gerade mit 16 oder 17.
Nach dem Training holten sich alle etwas vom Kiosk. Wir hatten nie Geld und sagten, wir müssten sofort nach Hause. Dann kam 2010, ein verrücktes Jahr. Plötzlich war ich im WM-Team. Ich meine, mit 16 mähe ich die Rasen anderer Leute, und mit 18 sitze ich im Flugzeug nach Südafrika zur WM. Ich erinnere mich immer noch ans Hotel.
Als wir ankamen, hatten wir da einen bewaffneten Mann mit einer riesigen Waffe vor der Tür jedes Zimmers. Ich dachte, das ist die coolste Sache der Welt. Ich meine, ein Jahr zuvor bin ich alleine durch den dunklen Park gerannt – und jetzt hatte ich meinen eigenen bewaffneten Tür-Wächter ...
Für meine Eltern war es sehr emotional, dass ich die WM spielte. Sie kamen mit nichts in die Schweiz und machten alles, dass wir Kinder ein gutes Leben haben. Die Schweiz gab meiner Familie alles, und ich versuche, alles für die Nati zu geben.
Die Schweiz ist für jeden da
2012, als wir gegen Albanien spielten, liess ich die Flaggen der Schweiz, Albanien und des Kosovo auf meine Schuhe sticken, und einige Schweizer Zeitungen kritisierten mich dafür. Aber das ist doch nur meine Identität!
Das Grossartige an der Schweiz ist, dass das Land Leute vor dem Krieg und der Armut gerettet hat. Die Schweiz ist für jeden da. An der WM 2018 habe ich nun die Flaggen der Schweiz und des Kosovo auf meinen Schuhen. Nicht aus politischen Gründen. Sondern weil die Flaggen mein Leben erzählen. Keine Sorgen: Die Schweizer Flagge trage ich auf meinem linken Fuss. Dem starken.
* Der Text erschien auf der Athleten-Homepage «Players Tribune» (www.theplayerstribune.com)
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Serben steckten Granits Papa 3 Jahre in den Knast
Kurz nach Spielschluss sagt Granit Xhaka: «Für mich natürlich ein ganz spezielles Spiel. Tausende Leute, die Familie aus der Schweiz, aus Albanien, aus dem Kosovo haben mir geschrieben. Dieser Sieg war für meine Familie, die mich immer unterstützt. Der Jubel war keine Message an den Gegner. Ganz ehrlich, die waren mir sch...egal. Das war für die Leute, die mich immer unterstützten. Jene, die mich nie links liegen liessen. In meiner Heimat, wo die Wurzeln meiner Eltern sind. Das waren einfach pure Emotionen.»
Alle 14 Tage durfte ihn seine Verlobte besuchen
Im Vorfeld waren die Schweizer mit Wurzeln im Balkan mehrfach von serbischer Seite provoziert worden. All dieser Frust kommt bei Xhaka (und später auch bei Shaqiri) hoch, als sie mit der Doppeladler-Geste ihre Tore gegen Serbien bejubeln. Und vor allem erinnert sich Xhaka an die traurige Geschichte seines Vaters.
Im Jahr 1986 studiert der damals 22-jährige Ragip Xhaka im Kosovo Landwirtschaftstechnik. Seine Fussballerkarriere musste er mit 17 nach einem Schien- und Wadenbeinbruch beenden. Er kämpft für die Freiheit. Lehnt sich bei Demos gegen die kommunistische Regierung des damaligen Vielvölkerstaates Jugoslawien auf. «Ganz normale Demonstrationen», wie er sagt.
Eines Tages wird er festgenommen. Zu Hause. Ins Gefängnis gebracht. «Meine Familie hat alles gehabt. Und alles verloren», sagt Ragip Xhaka. Er kommt in eine Knastzelle mit vier Männern. Zehn Minuten pro Tag sieht er andere Gefangene ausserhalb dieses Raums. Seine Verlobte darf ihn nur alle 14 Tage besuchen.
Die Jahre vergehen. Und Xhakas Glück ist, dass Amnesty International sich für die politischen Gefangenen einsetzt. Immer wieder besuchen sie ihn, intervenieren überall. «Immer wieder setzte sich die Organisation für meine Freiheit ein», sagt Xhaka.
Bis ins Jahr 1990. Ragip Xhaka ist in seiner Zelle, wird in ein Büro gerufen. «Du bist frei», sagt man ihm. «Das war fast wie ein Schock», erzählt er.
«Für die Schweiz gäbe ich mein Blut her»
Dank Amnesty kommt Xhaka mit seiner Frau Eli in die Schweiz. «Vom ersten Tag an habe ich gearbeitet», sagt er. Als Landschaftsgärtner. Im März 1991 kommt Taulant zur Welt. Eineinhalb Jahre später wird Granit in Basel geboren.
Heute hat die ganze Familie den Schweizer Pass. «Für mich», sagt Ragip, «ist die Schweiz die zweite Heimat. Für Taulant und Granit ist es die erste. Ich bin stolz auf beide. Und nach allem, was die Schweiz für mich getan hat, kann ich sagen: Ja, für dieses Land würde ich mein Blut hergeben.»
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Familie Behrami stand kurz vor Ausweisung
«Manchmal ist Sport mehr als Sport», twittert der Kosovo-stämmige Valon Behrami (33) nach dem 2:1-Sieg gegen Serbien. Klein Valon ist viereinhalb, als sein Papa Ragip mit Gattin Halime und Valons Schwester Valentina vor dem Krieg im Kosovo flüchten.
Doch 1989 droht den Behramis in Stabio TI die Ausschaffung. Papa Behrami jüngst zu SonntagsBlick: «Ich habe versucht, das Ganze nicht an Valon heranzulassen. Ich wollte ihn nicht damit beschäftigen. Nur: Was sollten wir machen? In den Kosovo konnten wir nicht zurück, da war Krieg. Wir dachten an Deutschland oder Schweden.»
Doch unerwartet gibts Hilfe vom Tessiner FDP-Staatsrat Alex Pedrazzini, dessen Sohn damals mit Valon bei den Junioren von Giubiasco spielt. Im Mendrisiotto werden 2000 Unterschriften für den Verbleib der Behramis gesammelt. Valons Familie darf bleiben. Valon, der als Cross-Läufer im Tessin Dutzende Pokal abräumt, entscheidet sich kurz darauf, nur noch auf die Karte Fussball zu setzen.
Als erster Schweizer spielt Valon seine 4. WM!
Behrami ist noch keine 16, als er bei Lugano unter Trainer Roberto Morinini (†) debütiert. Lugano geht kurz darauf Konkurs. Serie-B-Klub Genoa bietet gleich einen Vierjahresvertrag. Ein Jahr später wird Valon bei Hellas Verona zum besten Serie-B-Spieler der Saison gewählt. Und betritt mit 20 die grosse Fussballbühne.
Lazio Rom, West Ham, Fiorentina, Napoli, HSV, Watford. Seit 2017 spielt er für Udinese. 2005 gibt Behrami unter Köbi Kuhn in der WM-Qualifikation gegen Frankreich (1:1) sein Nati-Debüt. In seinem zweiten Match, dem Barrage-Hinspiel gegen die Türkei, schiesst Behrami sein bis heute wichtigstes Nati-Tor. Dank dem 2:0-Sieg reicht der Schweiz bei der Schande von Istanbul auch eine 2:4-Niederlage für die WM 2006 in Deutschland.
Jetzt steht «der Krieger» als erster Schweizer zum 4. Mal an einer WM im Einsatz. Beim 1:1 gegen Brasilien sorgt er weltweit für Schlagzeilen: Valon meldet vor den Augen seiner Freundin Lara Gut Weltstar Neymar ab. Und trotz Leistenbeschwerden steht er am Freitag auch gegen Serbien auf dem Feld.
Vom 14. Juni bis 15. Juli findet in Russland die Fussball-Weltmeisterschaft 2018 statt.
- Alle Infos, Highlights und Hintergründe – kurz den WM-Ticker – finden Sie hier.
- Sämtliche Ergebnisse und die besten Torjäger gibts hier in der Übersicht.
- Die Spieler aller teilnehmenden Mannschaften im Porträt: Wer wie gut spielt, lesen Sie hier im interaktiven Special.
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