BLICK zu Besuch bei Paulo Sergio
«Wenn du bei der WM einen Fehler machst, bist du kaputt»

Paulo Sergio über den «unmenschlichen Druck» bei einer WM, warum er 1994 gegen Italien gerne einen Elfmeter geschossen hätte und weshalb Brasilien 2018 den Titel holt.
Publiziert: 10.06.2018 um 18:22 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2018 um 00:25 Uhr
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Paulo Sergio gewann mit Brasilien 1994 den Weltmeistertitel.
Foto: TOTO MARTI
Martin Arn (Interview) und Toto Marti (Fotos) aus São Paulo

Wie wird man Weltmeister?
Es ist nicht einfach! Nur wenige Spieler können es erreichen. Ich war 25-jährig als wir 1994 den Titel holten. Als Brasilien davor letztmals Weltmeister wurde, war ich einjährig. Wir mussten 24 Jahre warten. Keiner hat 1994 an uns geglaubt. Wir hatten zu dieser Zeit grosse Probleme in Brasilien. Es gab Korruptionsfälle. Ayrton Senna war kurz vorher gestorben. Brasilien war am Boden und dürstete nach diesem Erfolg.

Pelé hatte vor dem Turnier 1994 gesagt: «Brasilien hat keine Chance!».
Ach, Pelé! Für ihn war damals Kolumbien der Favorit (lacht). Sie sind nach den Gruppenspielen ausgeschieden. 

Was waren die Stärken der damaligen Mannschaft?
Wir hatten ein Team mit erfahrenen Spielern: Romário, Bebeto, Jorginho, Branco, Taffarel. Sie hatten die Erfahrung von 1990, wo sie aber zu viele Fehler gemacht hatten. Wir hatten enormen Druck, aber wir haben ihn ausgehalten und kaum Fehler gemacht. Wenn du bei einer WM einen Fehler machst, bist du kaputt.

Roberto Baggio, nachdem er den Penalty verschoss.
Foto: AP

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Roberto Baggio im Final den entscheidenden Elfmeter verschoss?
Es ist fast nicht möglich, dieses Glücksgefühl zu beschreiben. Du willst jeden umarmen, willst nur noch tanzen, hüpfen und das Glück hinausschreien.

Aber Sie haben doch danach gebetet?
Ja, das ist wahr. Wir sind aufgesprungen von der Bank, sind zu Goalie Taffarel gerannt. Haben uns umarmt. Danach bildeten wir einen Kreis und haben gebetet.

Wessen Idee war das?
Wir haben während des ganzen Turniers immer gebetet. Vor den Spielen, nach den Spielen, zwischen den Spielen. Wir hatten einen Bibelkreis. Jorginho, Macinho, Müller, Taffarel und ein Pastor aus Brasilien, der immer dabei war. Eine Zeitung aus den USA hat vor dem Final geschrieben. «Wer gewinnt – Jesus oder Buddha?» Weil Baggio Buddhist war.

Foto: Bongarts/Getty Images

Haben Sie beim Elfmeterschiessen auch gebetet?
Ja, logisch. Das war kaum zum aushalten. Dieser Druck, diese Anspannung. Schauen Sie, ich habe jetzt grad wieder Hühnerhaut. Beten gibt dir in solchen Momenten die nötige Ruhe und die Zuversicht, dass du gewinnen wirst.

Ist Elfmeterschiessen nicht eine Lotterie?
Das würde ich nicht sagen. Unsere Schützen haben sehr gut geschossen. Der einzige gute Spieler von Italien, Roberto Baggio, hat verschossen. Klar, das kann passieren. Ich selber habe 2001 im Champions-League-Final den ersten Penalty verschossen. Wir haben trotzdem gewonnen. Dank Olli Kahn!

Hätten Sie denn im WM-Final gerne geschossen?
Ja, klar! Ich hätte getroffen (lacht)!

Die brasilianischen Teams von 1982 und 1986 galten als talentierter, als dasjenige von 1994…
… da muss ich Sie unterbrechen: Uns hat man das auch immer gesagt. Aber es bringt gar nichts, schönen Fussball zu spielen und zu verlieren. Wir wussten 1994: Wir würden diszipliniert spielen müssen. Wir hatten Romário und Bebeto vorne. Wir wussten, dass sie Tore schiessen. Wir haben die WM auch im Kopf gewonnen.

Grenzenloser Jubel bei den Brasilianern nach dem Gewinn des Titels.
Foto: Getty Images

Und mit der Hand: Sie sind immer Hand in Hand eingelaufen. Weshalb?
Wir hatten unglaublichen Druck. Davon haben Sie keine Ahnung: Da war die Presse, die Fans – alle verlangten den Titel von uns. Es war unmenschlich. Wir wussten: Wir müssen zusammenhalten.

Was halten Sie von der jetzigen Seleção?
Es ist eine richtig gute Mannschaft, die Trainer Tite geformt hat. Davor hatten wir Dunga und es gab viele Schwierigkeiten. Tite kann mit den Jungen umgehen, er hat eine andere Ansprache. Er lässt wieder brasilianisch spielen. Sogar ohne Neymar haben wir gegen Deutschland gewonnen. Wenn Neymar dabei ist, dann sind wir sehr stark. Brasilien hat eine grossartige Möglichkeit, Weltmeister zu werden. Wir haben Routiniers, wir haben Junge. Fast alle spielen in Europa. Sie wissen, wie man mit Druck umgeht. Es wäre an der Zeit, dass Brasilien den Pokal wieder holt.

Haben die Brasilianer Schwächen?
Wenn Neymar nicht spielt, dann weiss ich nicht, wer der Chef sein soll. Ich weiss nicht, wie das Team auf seinen Ausfall reagieren würde.

Was halten Sie von der Schweizer Mannschaft?
Die Schweizer sind auch stark. Das haben sie vor vier Jahren gezeigt unter Ottmar Hitzfeld. Gegen Argentinien, als ich im Stadion war, hat die Schweiz sehr mutig gespielt. Ich denke, sie sind noch einmal stärker geworden, es hat ein paar neue, junge Spieler.

Der Brasilianer hält viel von der Schweizer Mannschaft.
Foto: TOTO MARTI

Kennen Sie Schweizer Spieler?
Ich kenne Lichtsteiner, den Rechtsverteidiger von Juve. Er hat zuletzt vielleicht nicht so viel gespielt, aber er hat mit Juve in Italien alles gewonnen. Er hat Erfahrung aus der Champions League. An Shaqiri erinnere ich mich, ein technisch starker Spieler.

Was macht Tite anders als Dunga?
Er hat einen besseren Draht zu den Spielern. Fussball spielen können die ja alle. Und auch taktisch sind sie so gut ausgebildet, dass es da eigentlich nur um Details geht. Tite spricht mehr mit ihnen, er gibt ihnen Verantwortung.

Wie haben Sie das 1:7 gegen Deutschland vor vier Jahren erlebt?
Ich war bei Freunden. Ich trug eine Deutschlandmütze und ein Brasilien-Shirt. Ich war gespalten. Ich sage in Brasilien immer: Deutschland ist mein zweites Zuhause. Trainer Scolari hat unglaubliche Fehler gemacht. Du darfst gegen Deutschland doch nicht mit drei Stürmern spielen. Wir haben das Mittelfeld komplett aufgegeben. Die Deutschen kamen ganz einfach in unsere Zone. Das war Scolaris Schuld.

Paulo Sergio spielte unter anderem bei Bayern München, warum sein Herz auch für Deutschland schlägt.
Foto: Bongarts/Getty Images

Was ging ihnen durch den Kopf?
Ich habe gelacht und geweint. Beides gleichzeitig. Ich war sehr nervös. Es war wie ein böser Traum. Es war eine Demütigung!

Wie war das für Sie, als Sie als junger Mann nach Deutschland wechselten?
Ich kam mit 23 zu Leverkusen. Damals durften nur drei Ausländer spielen pro Mannschaft. Ein Tscheche, ein Rumäne und ich waren in Leverkusen. In der ganzen Bundesliga gab es vier Brasilianer. Es war sehr schwierig. Ich konnte kein Deutsch, kein Englisch. Es gab viel Neid unter meinen Mitspielern, weil ich viele Tore erzielte. Nach drei Monaten wollte ich weg. Dann kam Reiner Calmund (der damalige Manager von Leverkusen; Anm. d. Red.) und sagte: ‚Nee, Paulo, du bleibst, du beisst dich jetzt durch!’ Bernd Schuster hat mir in dieser Zeit sehr viel geholfen. Auf dem Platz, aber vor allem auch daneben. Ich musste mich auch selber bemühen. Ich habe die Sprache gelernt, habe mich an die Deutsche Kultur gewöhnt. An die Pünktlichkeit vor allem (lacht).

Was machen Sie heute?
Ich bin Fussballkommentator für den brasilianischen Internet-Provider UOL, mache einige andere Dinge. Daneben arbeite ich als Pastor in einer Gemeinde mit 400 Gläubigen.

Sie predigen?
Ja, gerade am letzten Wochenende stand ich auf der Kanzel.

Bitten Sie Gott, dass Brasilien Weltmeister wird?
Nein, nein. Wobei: Wir hätten es schon wieder mal verdient!

***************

Weltmeister und Champions-League-Sieger

Paulo Sérgio Silvestre do Nascimento (49) wurde in São Paulo geboren. Er begann seine Karriere als 13-Jähriger bei den Junioren des Traditionsklubs Corinthians. Mit 18 debutierte der Stürmer in der Profimannschaft. Mit Corinthians gewann er 1988 die Staatsmeisterschaft von São Paulo und 1990 den Landesmeistertitel. Von 1993–1997 spielte er für Bayer Leverkusen (121 Spiele, 63 Tore), danach wechselte er zu AS Rom (64 Spiele, 24 Tore). Von 1999-2001 spielte er für die Bayern (77/21), mit denen er 2001 die Champions League gewann. Es folgte ein Abstecher in die Vereinigten Arabischen Emirate. Seine Karriere beendete Paulo Sergio 2003 in Brasilien bei EC Bahia.

Paulo Sergio hat 13 Länderspiele absolviert und wurde mit Brasilien 1994 Weltmeister.

WM 2018 in Russland

Vom 14. Juni bis 15. Juli findet in Russland die Fussball-Weltmeisterschaft 2018 statt.

  • Alle Infos, Highlights und Hintergründe – kurz den WM-Ticker – finden Sie hier.
     
  • Sämtliche Ergebnisse und die besten Torjäger gibts hier in der Übersicht.
     
  • Die Spieler aller teilnehmenden Mannschaften im Porträt: Wer wie gut spielt, lesen Sie hier im interaktiven Special.

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