BLICK besucht die Favelas von Rio
«Wir brauchen keine Neymars, wir brauchen gute Bürger»

Armut, Drogen, Gewalt. Fussball ist die einzige Chance der brasilianischen Favela-Kinder. «Aber wir brauchen keine Neymars», sagt Jorginho, der Weltmeister war und heute eine Schule führt. «Wir brauchen gute Bürger.»
Publiziert: 12.06.2018 um 19:31 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2018 um 05:49 Uhr
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Die Kinder in der Favela Complexo do Alemão wachsen zwischen Armut und Bandenkrieg auf.
Foto: TOTO MARTI
Martin Arn (Text) und Toto Marti (Fotos)

Der Weltmeister öffnet das Tor. Schweres Metall und Ketten. Zwei Schlösser. «Heute ist es ruhig», sagt Jorginho (53), Fussballweltmeister mit Brasilien 1994 und deutscher Meister mit Bayern München.

Auf seinem T-Shirt steht «Bola pra frente», «Ball nach vorne». So heisst auch seine Schule in Guadalupe, einem der ärmsten Stadtteile von Rio de Janeiro.

Jorginho führt im Stadtteil Guadeloupe eine Schule.
Foto: TOTO MARTI

Jorginho schliesst das Eisentor schnell wieder ab. «Gestern gab es Schiessereien. Banditen, Polizei – man weiss es nicht.» Es wird fast täglich geschossen in Guadalupe.

Jorginho ist hier im Norden von Rio de Janeiro aufgewachsen. Er zeigt hoch zum 4. Stock. «Dort haben wir gewohnt.» Risse im Beton. Der Verputz blättert ab. Kabel hängen wie Spinnennetze über den Strassen. «Wir waren arm. Aber wir waren glücklich», sagt Jorginho. «Heute herrscht Krieg. Drogen, Kriminalität.»

Vor der Fussball-WM 2014 und den Olympischen Spielen 2016 hatte die Regierung von Rio de Janeiro Sonderkommandos in die Favelas geschickt, um sie zu befrieden. Man wollte der Welt ein sicheres Rio präsentieren. Inzwischen haben die Drogendealer die Favelas zurückerobert.

Auf Jorginhos Fussballplatz sind die Buben und Mädchen zum Nachmittagstraining eingetroffen. Er schüttelt jedem Kind die Hand. Nur wer am Morgen in der Schule war und seine Hausaufgaben gemacht hat, darf trainieren.

«Wir brauchen keine Neymars», sagt Jorginho. «Wir brauchen gute Bürger!»
Foto: TOTO MARTI

Zehn Kilometer weiter spielen die Kinder ebenfalls Fussball. Complexo do Alemão heissen die Favelas im Nordwesten von Rio. 650'000 Menschen wohnen dort in ihren Backsteinhäusern. In den Fenstern hängen Tücher, weil Glas zu teuer ist. Und weil immer mal ein Ball in die Scheiben fliegen könnte.

Auf dem Fussballfeld bedeutet, nicht auf der Strasse zu sein

Ein kleiner Junge mit lockigen schwarzen Haaren dribbelt sich durch die anderen Kinder. «Tolle Technik. Schnell, klug», schwärmt sein Trainer. Der Trainer heisst Roberto, aber alle nennen ihn Dede. Dede (62) ist eigentlich Sozialarbeiter. Er wohnt seit seiner Geburt in der Favela. «Fussball ist eine Lebensschule», sagt er. «Jede Stunde, die Kinder auf dem Fussballplatz verbringen, sind sie nicht auf der Strasse.» Aber Dede weiss auch: «Der Tag hat 24 Stunden. Keine Ahnung, was sie nach dem Training machen.»

Der Complexo do Alemão ist eine der grössten und gefährlichsten Favelas in Rio.
Foto: TOTO MARTI

Der Kleine mit dem dunklen Wuschelkopf heisst Paulinho. Er hat soeben ein Tor geschossen. «Ich möchte später bei Flamengo spielen», sagt er, «und dann in Europa oder in England.» Seine Mutter starb, als er sieben war. Den Vater hat er nie gesehen. Der Onkel, bei dem er jetzt wohnt, kontrolliert einen der vielen Drogenumschlagplätze in der Favela. Sein ältester Cousin (15) steht neben dem Fussballplatz. Er hat eine AK 47 umgehängt. Ein Kriegsgewehr. Sein kleiner Bruder verpackt an einem Holztisch Kokain in Plastiktüten.

Die Favela-Kinder sind voll bei der Sache.
Foto: TOTO MARTI

Dede zuckt mit den Schultern. «Ich bin hier Sozialarbeiter, aber ich alleine kann die Dinge nicht ändern. Ich kann nur versuchen, den Kindern den richtigen Weg zu zeigen.» Dede wird respektiert in der Favela. «Mir ist noch nie etwas gestohlen worden. Ich schliesse meine Haustür niemals ab.» Er kennt alle Kinder in der Nachbarschaft. Brendo zum Beispiel. Brendo trainiert nun Judo. Bei einem regionalen Turnier hat er die Silbermedaille gewonnen. Sozialarbeiter Dede ist stolz. «Mein Olympiasieger», sagt er und streicht dem Jungen über den Kopf.

Brendos Vater und sein ältester Bruder sind tot. Erschossen vor vier Jahren. Laut Polizeibericht sind sie bei einem Feuergefecht rivalisierender Banden gestorben.

Für den Sozialarbeiter sind die Politiker die grössten Banditen

Vor zwei Tagen gab es neben dem Fussballplatz eine Abrechnung unter den Gangs. 31 Patronenhülsen stellte die Polizei sicher. Ein unbeteiligtes Mädchen wurde von einem Querschläger in die Schulter getroffen. Sie spielte in Dedes Fussballschule. «Ich sehe, was ich sehen muss. Ich spreche über das, worüber ich sprechen muss», sagt Dede.

Sozialarbeiter Roberto: «Ich will versuchen, den Kindern den richtigen Weg zu zeigen.»
Foto: TOTO MARTI

Über die Drogenbanden möchte Dede lieber nicht sprechen. Für ihn sind die grössten Banditen nicht die Jugendlichen mit ihren Maschinengewehren, sondern die Politiker, die im Regierungspalast von Rio de Janeiro sitzen. Und in der Hauptstadt Brasilia. «Die Politiker sorgen dafür, dass Bildung und Gesundheit nur für die reiche Oberschicht ist. Die Reichen werden reicher. Die Armen werden ärmer.»

Auch seine Favela, der Complexo do Alemão, galt einmal als befriedet. Die Regierung hatte 2011 eine Seilbahn gebaut, um die Hügel miteinander zu verbinden. Jeder Einwohner erhielt zwei Freifahrten pro Tag. Kinder konnten umsonst zur Schule gehen. Dann wurde der Betrieb eingestellt, weil die Regierung das Geld nicht mehr aufbringen wollte.

Nur wer morgens in der Schule war, darf mittrainieren.
Foto: TOTO MARTI

Zum Complexo do Alemão gehört auch die Favela Vila Cruzeiro. Ex-Nationalstürmer Adriano (36, Inter Mailand) ist hier aufgewachsen. Für die Kinder, die auf dem Sandplatz trainieren, ist er ein Idol. Der Beweis dafür, dass man es von hier zu etwas bringen kann.

Naldo ist elf. Sein rot-schwarzes Flamengo-Trikot ist viel zu gross. Die Fussballschuhe auch. Naldo übt Fallrückzieher. «Ich will später Profi werden», sagt er, «oder Arzt.» Daneben steht ein Knirps, den alle nur Peque (Kleiner) nennen. Mitspielen kann er noch nicht. Er hat einen Schnuller im Mund. Der Kleine ist drei, vielleicht vier. Niemand weiss es so genau.

In Guadalupe, in Jorginhos Schule, ist das Training beendet. Jorginho steht vor einem der Hochhäuser und unterhält sich mit einer alten Frau. «Mit ihren Kindern habe ich früher Fussball gespielt. Eine achtköpfige Familie. Sie lebten in einer Zweizimmerwohnung.»

Jorginho will seine Schule ausbauen. Neue Unterrichtsräume, Garderoben, ein zweites Fussballfeld. In sechs Wochen werden die Bagger auffahren. Davor muss er sich mit dem Drogenboss der Favela treffen. «Es ist besser, wenn die wissen, was wir vorhaben», sagt er. Das Thema ist ihm unangenehm.

In Brasilien regiert die Korruption

Natürlich habe er Angst vor diesem Besuch, sagt Jorginho. «Aber irgendjemand muss ja etwas machen.» Mit Sponsor Nike und einem Dutzend weiterer Geldgeber hat er die Schule aufgebaut. Eine Million Dollar hat Jorginho beigesteuert.

Der Traum jedes brasilianischen Kindes: So sein wie Superstar Neymar.
Foto: TOTO MARTI

Jorginho spricht nach sechs Jahren in der Bundesliga sehr gut Deutsch. «In Deutschland habe ich gelernt, was Disziplin ist. Wie ein Land funktionieren muss. In Brasilien regiert nicht die Regierung. In Brasilien regiert die Korruption.» Das Land taumelt immer noch unter dem Eindruck des grössten Korruptionsskandals der Geschichte: Der halbstaatliche Erdölgigant Petrobras hat über Jahre Geschäftsleute, Politiker, Richter, Staatsanwälte und Parteien bestochen. Mehr als zwei Milliarden Dollar Schmiergeld hat Petrobras gezahlt. Das ist selbst für brasilianische Verhältnisse, wo Bestechung zum Alltag gehört, unglaublich.

Jorginho steht vor der bröckelnden Fassade seines Elternhauses und schüttelt immer wieder den Kopf: «Es ist unfassbar! Zwei Milliarden Schmiergelder vom Staat. Es gibt in Brasilien Eltern, die kein Geld haben, um ihren Kindern die Busfahrt zur Schule zu bezahlen. Und gleichzeitig verschleudert der Staat Milliarden.»

Gewehrsalven im Sonnenuntergang

Hinter den Hügeln des Complexo do Alemão ist die Sonne untergegangen. Am Eingang der Favela sitzen zwei Militärpolizisten in einem Pick-up. Die Drogengangs haben Metallpfähle in die steilen Strassen betoniert und Bodenwellen gebaut, damit die Polizeifahrzeuge nicht patrouillieren können.

Dann unterbrechen zwei Gewehrsalven den Sonnenuntergang. «Keine Schiesserei», beschwichtigt Sozialarbeiter Dede, «damit warnen die Bosse ihre Kokainverkäufer vor der anrückenden Polizei». Aber meistens hält sich die Staatsgewalt sowieso zurück. Viele Polizisten stehen im Sold der Drogenbanden.

Die Brasil-Stars sind für die Kids der Beweis, dass man es von hier zu etwas bringen kann.
Foto: TOTO MARTI

Auch bei Weltmeister Jorginho in Guadalupe ist es Abend geworden. Der Drogenboss hat den Termin mit ihm kurzfristig platzen lassen. Sogar ein Fussballweltmeister muss sich den Launen des Capos beugen.

Die Kinder spielen immer noch Fussball. Einer trägt ein Trikot von Paris St-Germain mit der Nummer 10 auf dem Rücken.

Jorginho lacht und meint: «Vielleicht wird einer von ihnen mal Profi. Aber wir brauchen keine neuen Neymars. Wir wollen, dass die Kinder gute Bürger werden.»

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Die 21. WM findet vom 14. Juni bis 15. Juli 2018 in Russland statt. Die wichtigsten Informationen zum Spielplan, den Gruppen und Spielorten finden Sie hier.

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