Am Freitagmorgen ist auf der Corniche, Dohas berühmter Uferpromenade, wenig los. Bis auf einzelne Jogger und einige Polizisten, welche in Gruppen im Schatten sitzen und die Fan-Meile bewachen, scheint Doha noch zu schlafen. Vier asiatische Touristinnen machen ein Selfie vor dem überdimensionalen WM-Maskottchen La’eeb. Es soll eine Fantasiefigur aus einem Paralleluniversum darstellen, sieht aber aus wie ein Geist.
Nun stehen wir also da. An dem Ort, an dem wir laut vielen gar nicht stehen dürften, weil man die WM hätte boykottieren sollen. Als Beobachter ist es schwierig, sich ein richtiges, wahres Bild zu machen. Was ist echt? Was Fassade? Das ist ein subjektiver Augenschein vor Ort, mehr nicht. Die Wahrheit? Oft auch Auslegungssache.
Boot-Kapitän Sona verdient an der WM weniger
Hier auf der Corniche ist alles herausgeputzt, autofrei, abgesperrt. Verpflegungsstände sind aufgebaut, Kühlschränke installiert. Man scheint gerüstet für die nächsten Wochen. Auch Sonas Boot ist startklar. Der Inder führt Touristen mit einem der traditionellen Doha-Boote aus. Vor einem Jahr war er noch selbständig, hat das Boot gemietet und wirtschaftete in den eigenen Sack. Pro Monat seien so durchschnittlich 3000 Riyal (rund 750 Franken) zusammengekommen, sagt er. Jetzt sind es noch 2000 Riyal. Egal, wie oft er ablegt. «Ein katarisches Unternehmen hat fast alle Boote gekauft und mich angestellt», sagt er. Obwohl die WM für ihn zum Verlustgeschäft wird, fiebert Sona mit. Er hofft auf Portugal. «Ronaldo ist mein grosser Liebling.»
Daniel kommt auf dem Velo. Laut und bunt. Er ist in eine Ghana-Fahne eingehüllt, trägt eine rot-gelb-grüne Perücke und trötet in eine Vuvuzela. Seit Jahren arbeitet der Ghanaer in einem Restaurant in der Nähe, während der WM will er ein paar Riyal dazuverdienen. So verkauft er an seinen freien Tagen Fan-Utensilien. Doch sein Nationalstolz scheint ausgeprägter als sein Geschäftssinn. Sein Sortiment besteht nämlich ausschliesslich aus Ghana-Flaggen. «Der Fussball ist für mich das glücklichste Spiel der Welt. Ich liebe ihn», sagt Daniel. Er hat sich Tickets für zwei Spiele geleistet, will mit seiner Vuvuzela seine Ghanaer im Stadion anfeuern. Darauf freut er sich wie ein kleines Kind.
Das glücklichste Spiel der Welt? Wars einmal. Vielleicht. Der Fussball hat seine kindliche Unschuld jedoch längst verloren. So politisch und hitzig wurde noch nie im Vorfeld über eine WM debattiert wie über Katar 2022. Die korrumpierte Vergabe des Turniers im 2010, die homophoben Gesetzgebungen im Land, die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern, die zahlreichen Todesfälle von Gastarbeitern beim Bau der Stadien. Was soll man bei dieser WM nun machen? Wegschauen? Hinschauen? Protestieren? Boykottieren? Mitfiebern? In der Schweiz haben sich einige noch immer nicht entschieden. In Doha sind nur diejenigen, die hinschauen und mitfiebern wollen.
«Bei uns wird über Messi debattiert, nicht über Menschenrechte»
Das Ehepaar Leslie und Jeff ist aus Miami angereist. Er sagt: «All diese Negativität, wir kümmern uns nicht darum. Überall auf der Welt findest du Probleme, wenn du genau hinschaust …» Sie meint: «Bei all den vorherigen Weltmeisterschaften gab es Probleme. Russland. Südafrika. Auch wir Amerikaner haben unsere Probleme.» Die nächste WM wird in den USA, Mexiko und Kanada stattfinden.
Thomas aus Argentinien trägt ein Shirt von Lionel Messi. «Es geht um Fussball. Ich bin hierhergekommen, um mein Team zu unterstützen.» Er ist längst nicht der einzige Messi, der bereits in Doha ist. Fünf andere Messis stehen im Kreis und spielen sich einen Ball zu. Wird in Argentinien auch über die Menschenrechte in Katar gesprochen? «Nein. Bei uns wird darüber debattiert, ob Messi Weltmeister wird. Menschenrechte sind kein Thema», sagt einer der Messis.
Frauen mit Top neben Frauen mit Burka
Leslie, Jeff und die Messis sind auf dem Souq Waqif, dem traditionellen Markt mit vielen Restaurants und Cafés. Hier wird es während der WM mit Sicherheit kunterbunt. Ist es auch schon am Freitag. Es wird Ball gespielt, Wasserpfeife geraucht oder Tee getrunken. Menschen verschiedenster Kulturen kreuzen und treffen sich: Männer in Badelatschen und Badehosen oder in traditioneller Kleidung. Frauen mit Burka oder mit Top und kurzen Hosen. Auf dem Souq scheint man grosszügig über die Kleidervorschriften, welche hier normalerweise gelten, hinwegzusehen: Man sieht Trägeroberteile, schulterfrei, kürzere Röcke oder Shorts. Alle wirken entspannt. Es ist gemütlich, friedlich, kunterbunt.
Omar sticht dennoch aus der Masse heraus. Der grosse Ecuadorianer kommt im traditionellen weissen Gewand und Kopfbedeckung, über den Schultern eine grosse Ecuador-Fahne, in der Hand ein überdimensionierter WM-Pokal. Bevor er die Kleider kaufte, habe er sich erkundigt, ob es angebracht sei, wenn er sie tragen würde, oder ob er damit jemanden beleidigen könnte, sagt er. «Man sagte mir, das sei überhaupt kein Problem. Die Menschen hier sind alle hilfsbereit und freundlich. Es war ein toller Kauf. Mit diesem Gewand schwitze ich viel weniger.»
Es ist die erste Winter-WM der Geschichte für uns Menschen oberhalb des Äquators, für Australier zum Beispiel ist es nach 92 Jahren die erste Sommer-WM ihrer Geschichte. Rund 32 Grad ist an diesem frühen Nachmittag im Schatten. Omar, Jeff und die Messis würden zur Abkühlung nun gerne ein Bier trinken. Können sie aber nicht. Im Souq herrscht Alkoholverbot. Auch während der WM.
Hier kann man in Doha ein Bier trinken
Soeben wurde bekannt, dass auch an den Spieltagen rund um die Stadien kein Alkohol ausgeschenkt werden wird. Die mit der Fifa vereinbarte Aufweichung des Alkoholverbots wurde also kurzfristig gekippt. «Ein Bier vor dem Spiel wäre sicher nicht schlecht gewesen», sagt Jan aus Deutschland. Matchentscheidend ist es aber nicht. «Ohne gehts auch. Wir sind für den Sport hier und nicht, um zu saufen. Als Gast sollte man sich auch an die Regeln des Landes halten.»
Ganz ohne ihr geliebtes Bier müssen die Fussballfans in Doha aber nicht auskommen. Am grossen Fan-Festival wird solches ausgeschenkt – ein halber Liter kostet da 13 Franken. Auch einige Hotelbars haben eine Bewilligung. In der Hotelbar der Schweizer Journalisten zum Beispiel gibts ein grosses Bier für 8 Franken.
Die Mexikaner Roxana und Manuel leben seit acht Jahren in Doha. «Das wird die beste WM aller Zeiten», sagt Manuel. Er arbeitet bei einem katarischen Staatsbetrieb, dessen Namen er nicht nennen darf. Roxana meint: «In den letzten Jahren wurde überall gebaut. Jetzt sehen wir, dass es sich gelohnt hat.» Die zwei kriegen die harsche Kritik aus dem Ausland mit, zeigen dafür aber wenig Verständnis. Manuel: «Wir leben schon lange hier und können sagen, dass die Menschen einen ausserordentlich guten Job gemacht haben. Es ist sehr leicht, von ausserhalb zu urteilen und auf andere zu zeigen.»
Jerome ist einer von wenigen Nati-Fans, die schon hier sind. Er schaut einer Dromedar-Karawane zu, die vorbeizieht. «Es ist toll hier», sagt der Fribourger. Man glaubt ihm. Obwohl – negativ äussern sollte er sich nicht. Er gehört zu den 25 Schweizern, die sich den Trip haben bezahlen lassen. Flugtickets, Wohnung sind gratis. Als Gegenleistung muss er ans Eröffnungsspiel. Für die drei Schweizer Spiele bezahlt Jerome selbst. Eigentlich hätte er zusätzlich 68 Franken Taschengeld erhalten sollen, dieses wurde aber gestrichen. «Kein Problem», sagt Jerome. Katar wollte sich mit dem Taschengeld nicht dem Vorwurf aussetzen, Fans zu kaufen.
In den letzten Jahren seien dank der WM viele gute Dinge geschehen, sagt ein pakistanischer Coiffeur, der sich keinen Deut für Fussball interessiert. «Schauen Sie diese tolle Metro an, die gebaut wurde. Sie erleichtert uns das Leben ungemein.» Persönlich profitiert er natürlich enorm: Sein kleiner Barber Shop liegt direkt neben einer Metro-Station. Einen Haarschnitt, inklusive Rasur, gibts übrigens für 7 Franken.
«Wir können der Welt die arabische und islamische Kultur zeigen»
Auch Ladenbesitzer Salim ist kein Fussballfreund, hofft aber auf gute Geschäfte. Nebst zahlreichen Touristenandenken und Wasserpfeifen verkauft er in diesen Tagen auch Fan-Utensilien. Wo ist die Schweizer Flagge? «Die muss wohl ausverkauft sein», sagt Salim und schmunzelt. Ibrahim ist aus dem Sudan und lebt seit 19 Jahren in Katar. Er sieht die WM als grosse Chance. «Es ist das erste Mal, dass wir im arabischen Raum so etwas erleben dürfen. Ich finde es schön, dass wir der Welt auch die arabische und islamische Kultur zeigen können.»
Eine Fussballkultur hat Katar nicht. Interessieren sich die gebürtigen Katarer eigentlich für ihre WM? Ob der Frage scheint Mohammed fast ein wenig beleidigt. «Wir haben sicher nicht das beste Team, das wissen wir selbst. Ich glaube auch nicht, dass wir grossartige Resultate erzielen. Aber es gibt viele Fussballfans. Und ihr werdet sehen: Die WM wird toll.»
Wie gut die Katarer kicken können, sehen wir am Sonntag, wenn sie auf Ecuador treffen. Wie toll die WM wirklich wird, zeigt sich in den nächsten Wochen. Sicher ist einzig: Ab heute rollt endlich der Ball.