Der Bürgerkrieg in Sri Lanka (ehemals Ceylon), in dem tamilische Separatisten zwischen 1982 und 2009 auf der südasiatischen Insel die Unabhängigkeit erkämpfen wollten, forderte gegen 100 000 Opfer.
In der Schweiz leben seither laut dem Bundesamt für Migration ungefähr 42 000 Flüchtlinge aus Sri Lanka, mehrheitlich Tamilen. Eine dieser Familien sind die Kanagasingams aus der Berner Vorortsgemeinde Stettlen.
Ihr Sohn Anojen (26) ist seit Sommer 2019 der erste dunkelhäutige Schiedsrichter im Schweizer Spitzenfussball. Der wissenschaftliche Mitarbeiter des Schweizerischen Polizei-Institutes in Neuenburg pfeift bereits Challenge League. Ziel: natürlich Super League. Oder gar Champions League – wie diese Woche Sandro Schärer als erster Schweizer seit fast zehn Jahren.
Kanagasingam zu SonntagsBlick: «In den 80er-Jahren sind meine Eltern vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka in die Schweiz geflüchtet. Ich bin in Bern geboren und aufgewachsen und war bisher nur einmal in meinem Heimatland.» Das war 2003.
Klein Kanagasingam kickt in der Berner Vorortsgemeinde Ittigen beim SC. «Beim Schuutt-Klub», sagt der heutige Schiri in astreinem Berner Dialekt, «aber ich war als Fussballer nicht extrem begnadet.»
Mit 17 hat der Hobbyfussballer Kanagasingam bei einem Aufstiegsspiel in die 3. Liga ein einschneidendes Erlebnis. Der Schiri versagte – und liess deshalb die Aufstiegsträume der Ittiger platzen. Das kann man besser machen, dachte sich Kanagasingam und begann seine Karriere mit der Pfeife im Mund.
Kanagasingam über seinen Ursprung als Unparteiischer: «Das hatte verschiedene Gründe: Motivationsprobleme als Fussballer, da wir mehrmals den Aufstieg in die 3. Liga verpassten. Dazu gab es ein Schlüsselerlebnis im Aufstiegsspiel mit einem Schiedsrichter, der einspringen musste und keine wirklich gute Leistung zeigte. Und als 17-jähriger Gymnasiast war es gutes Sackgeld.»
Rassismus hat der dunkelhäutige Ref erst einmal erlebt. Als Spieler. Zur «Berner Zeitung» sagte Kanagasingam im September 2019: «Ich war in einer Art Schockstarre.» Anscheinend heilt auch bei ihm die Zeit Wunden. Nun sagt er: «Diese Aktion ereignete sich in einem Juniorenspiel, an die Details kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Der Vorfall war Ursprung dessen, dass ich begann, mich mit gesellschaftlichen, soziokulturellen und ethnischen Fragestellungen zu beschäftigen.»
Was ist der lustigste Spruch, den er als Ref schon zu hören bekam? «Als lustig respektive viel eher amüsant oder süffisant empfand ich jeweils, wenn Spieler und Teamoffizielle mit meiner Leistung beziehungsweise eher mit dem Spielresultat nicht zufrieden waren und diese kritisierten. Ich entgegnete dann, dass die jeweilige Liga auch die entsprechenden Schiedsrichter verdiene.»
Eigentlich wollte der Ref sein Pensum am Polizei-Institut schon länger auf 80 Prozent reduzieren, ging bisher wegen eines Grossprojekts (Bildungspolitisches Gesamtkonzept 2020, das die Vereinheitlichung und Harmonisierung der Schweizer Polizei-Ausbildung zum Ziel hat) noch nicht. «Spätestens mit dem Abschluss der Projektphase per 31.12.2020 und dem Übergang in die operative Phase steht eine Reduktion des Pensums wieder zur Diskussion, um mich noch fokussierter dem Schiedsrichter-Wesen widmen zu können.»
Diese Woche bewundert Kanagasingam seinen Kollegen Sandro Schärer, der fast zehn Jahre nach Vorzeige-Ref Massimo Busacca als erster Schweizer wieder Champions League pfeifen durfte. Und das im Nou Camp zu Barcelona.
Was ging ihm dabei durch den Kopf? Kanagasingam: «Ich habe mich sehr gefreut für das Team um Sandro Schärer. Es ist für uns sehr wichtig, dass wir wieder ein Schiedsrichterteam in der Champions League stellen. Natürlich ist die Champions League ein Traum von allen Schiedsrichtern und Assistenten in unserem Team. Wir arbeiten jeden Tag sehr hart dafür, dieses Ziel zu erreichen.»
Das erste Ziel ist jetzt einmal die Super League. «Ich bin mir aber bewusst, dass noch ein harter und langer Weg vor mir liegt.»