Sie ahnt es sofort. Als Sandra Braschler am 31. Juli 2002 abends ihr Haus im sankt-gallischen Goldach betritt, spürt sie: Irgendetwas ist komisch. Zwei Stunden zuvor hatte sie noch mit Mani telefoniert. Es war scheinbar alles wie immer. Doch jetzt, wo sie die Tür öffnet und es draussen gleichzeitig zu regnen beginnt, beschleicht sie ein mulmiges Gefühl. Sie ruft nach ihm, erhält aber keine Antwort. Also läuft sie rüber zur Garage, in der ihr Ehemann oft werkelt. Sie kommt in schnellen Schritten ums Eck. Und dann sieht sie ihn direkt vor sich am Seil baumeln. Am Boden eine kleine, umgekippte Leiter.
Manfred Braschler, den alle nur Mani nannten, hat sich an jenem Mittwoch im Alter von nur 43 Jahren aufgehängt. Das Leben des einstigen Sonnyboys des Schweizer Fussballs, es endet tragisch. Die Frage nach dem Warum quält die Angehörigen und Freunde bis heute.
Willi Fink, sein Jugendfreund, sagt: «Er hat uns seine sensible Seite nie gezeigt. Er war auf den ersten Blick immer eine coole Socke.»
Paul Friberg, bei St. Gallen und Chur sein Teamkollege, sagt: «Nach der Karriere hatten wir uns aus den Augen verloren. Als wir uns dann nach Jahren mal wieder trafen, dachte ich mir: Das ist nicht mehr der Mani von früher!»
Sonja Hansl-Braschler, seine älteste Schwester, sagt: «Wir wissen bis heute nicht, warum er das getan hat. Auch weil er sich uns gegenüber nie so richtig geöffnet hat. Man kann in einen Menschen nicht hineinschauen.»
Mario Pfomann, sein Freund, sagt: «Er war so ein herzensguter Mensch, aber leider war er auch sehr labil.»
Sandra Braschler, die Witwe, sagt: «Warum hat er das gemacht? Warum hat er uns alle alleine zurückgelassen?»
Fragen, auf die es auch heute noch, genau 20 Jahre nach seinem Tod, keine Antworten gibt. Blick sprach mit zahlreichen Weggefährten. Die Reaktion war bei allen Gesprächspartnern die gleiche: Auf Mani angesprochen, begannen ihre Augen zu leuchten. Sie schwärmten von seinen fussballerischen Fähigkeiten, von seinem scheinbar sonnigen Gemüt, von seinen Spässchen und Streichen.
Doch es gab eben auch die andere Seite: Die Rede ist von Geldsorgen, von Alkoholproblemen und von dem Loch, in das er fiel, als sich die Scheinwerfer des Fussballgeschäfts von ihm abwandten und der normale, unspektakuläre Alltag, das Leben danach, begann.
Als Schweizer in der Österreich-Nati
Einer, der Mani Braschler von Kindesbeinen an kennt, ist Willi Fink. Die beiden wachsen im tirolerischen Imst in der gleichen Strasse auf. Sie drücken zusammen die Schulbank. Sie spielen gemeinsam für den SC Imst. «Der Mani war schon immer ein lustiger Knopf», erzählt Fink, «er war für jeden Spass zu haben. Mit 14 war es immer unser Ziel, den Spitz der Brennbichler Kirche zu erklimmen. Ohne dass uns jemand dabei erwischt. Der war ganz schön hoch und es brauchte viel Mut, aber wir schafften es beide. Und natürlich haben wir in der Zeit gemeinsam auch die ersten Mädels ‹verhaftet›. Viele Frauen standen auf den Mani mit seinen strohblonden Haaren.»
Schnell einmal wird klar: Braschler ist ein grosses Fussballtalent, für so ein kleines Städtchen wie Imst ein Jahrhunderttalent. Er wechselt deshalb zum SSW Innsbruck. Auch in der Bundesliga schiesst der linke, klein gewachsene Flügel emsig seine Tore. 1978 wird er in Österreich für die B-Nati aufgeboten und erzielt gegen Portugal das goldene Goal. Was zu diesem Zeitpunkt niemand weiss: Braschler ist auf dem Papier gar kein Österreicher, sondern besitzt nur den Schweizer Pass. Sein Grossvater war einst nach dem Ersten Weltkrieg nach Tirol ausgewandert.
Auch Innsbruck setzt den Einheimischen Braschler als «Inländer» ein. Damals dürfen nur drei Legionäre gleichzeitig eingesetzt werden. Doch die Tiroler laufen in der Zeit eben regelmässig mit drei Ausländern plus Braschler auf. Weil einige Klubs Protest einlegen, wird Braschler ein Fall für die Gerichte. Diesem wird schliesslich nicht stattgegeben, doch der Name Manfred Braschler wird dadurch über die Landesgrenzen hinaus ein Begriff.
Er brachte den St.-Gallen-Präsident zum Toben
1982 verpflichtet der FC St. Gallen Braschler. Mit 400’000 Franken ist er damals der teuerste Neuzugang der Klub-Geschichte. Sein Monatsgehalt: satte 15’000 Franken. Beim FCSG trifft er auf den rechten Flügel Paul Friberg. «Ich kann mich noch gut daran erinnern, als er uns vorgestellt wurde», erzählt der Bündner. «Wir hatten im Espenmoos gerade ein Training. Dann hiess es, aus Innsbruck käme ein Neuer. Plötzlich tauchte er auf, dieser blonde Engel mit seinem breiten Lachen. Er sagte nur: ‹Servus, ich bin der Mani.›»
Friberg schwärmt noch heute von Braschlers fussballerischen Fähigkeiten. «Er war ein exzellenter Dribbelkünstler. Unheimlich wendig, schnell und sehr torgefährlich.» Und er war für jeden Scherz zu haben. «Zu Beginn der Saison wurden ja immer offizielle Mannschaftsfotos gemacht. In einem Jahr sassen er und Mario Moscatelli nebeneinander. Aus Spass legten sie sich gegenseitig die Hand auf den Oberschenkel. Die Chefs merkten das erst, als die Poster und Karten schon gedruckt waren. Unser Präsident Oberst Schärli tobte daraufhin so richtig.»
Mit seinen starken Leistungen und Toren schiesst sich Braschler auch in die Nationalmannschaft. Und zwar in die Schweizer. Insgesamt 21-mal wird er für die Nati auflaufen. Dort lernt er auch Roger Berbig kennen. Die GC-Goalie-Legende und Braschler hätten danach immer eine Wette laufen gehabt, erinnert sich Friberg. «Trafen wir mit St. Gallen auf GC, brachten beide eine Stange Zigaretten der Lieblingsmarke des anderen mit. Wer das Spiel verlor, musste sie danach dem anderen unauffällig überreichen.»
«Mani hat um mich gekämpft»
Nach sieben Jahren St. Gallen wechselt Braschler 1989 zum FC Chur in die Nati B. Auch dort ist Friberg sein Teamkollege. Ob da sein Leben schon aus den Fugen geraten war? «Ich weiss es nicht», sagt Friberg, «in der Zeit fuhr er nach den Spielen und den Trainings stets gleich nach Hause.»
1991 beendet Braschler schliesslich seine Karriere als Profi und spielt fortan im Amateurfussball beim FC Romanshorn, zuerst noch bei den Aktiven, später auch bei den Senioren. Dort freundet er sich mit Stürmer Mario Pfomann und Ehrenpräsident Hans Sidler an.
Pfomann: «Für uns war es natürlich toll, mit einem solchen Kaliber zusammen zu spielen. Mani hat nie den Star rausgehängt, er war einer von uns und gab in jedem Spiel Vollgas. Mal hatten wir beide eine gebrochene Rippe. Als ich am Spieltag bei ihm zum Frühstück eingeladen war, lag neben dem Messer bei beiden ein 1000er-Ponstan. Wir warfen es ein und spielten danach. Man hätte ihm das Bein abschneiden müssen, damit er nicht aufgelaufen wäre.»
Zwischen Braschler und Pfomann entwickelt sich schnell einmal eine Freundschaft. In den Halbzeitpausen wird gemeinsam auf dem WC eine geraucht, im Privat- und Berufsleben hilft man sich gegenseitig. «Mani war sehr grosszügig. Vielleicht zu grosszügig. Er hätte jedem sein letztes Hemd gegeben.»
Die finanziellen Probleme, sie nehmen in der Zeit zu. Wohl vor allem, weil Braschlers erste Frau, mit der er einen gemeinsamen Sohn hat, sein Geld mit vollen Händen ausgab. Sidler versucht ihn deshalb zu unterstützen. Schaut, dass sein Reinigungsinstitut in die Gänge kommt, macht ihm die Buchhaltung, hilft ihm bei der Wohnungssuche und dass er die Schulden in den Griff bekommt.
1995 lernt Braschler Sandra kennen. Sie bringt aus einer früheren Beziehung drei Kinder mit. 2001 heiratet das Paar. «Mani war meine grosse Liebe und ich seine», sagt Sandra heute. «Er war einer, der um mich gekämpft hat. Das hat mir natürlich gefallen.»
Sie mussten ihn von den Geleisen runterholen
Das Unheil aber, es nimmt seinen Lauf. Alkoholprobleme, Finanzsorgen, möglicherweise auch Spielsucht und Liebschaften ausserhalb der Ehe. Offenbar versucht Braschler gleich mehrere Male, sich das Leben zu nehmen. Mario Pfomann: «Einmal mussten wir ihn von den Geleisen runterholen. Und ein andermal kam er mit eingebundenen Armen zum Spiel, weil er sich zuvor die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Wir haben ihn zwar gefragt nach dem Warum, er konnte oder wollte uns aber nie eine Antwort darauf geben.»
Sandra Braschler sagt: «Er stand jahrelang im Mittelpunkt. Doch dann war er plötzlich niemand mehr und musste den Dreck anderer Leute wegputzen. Das hat ihm wahnsinnig zu schaffen gemacht.»
Am Mittwochabend, dem 31. Juli 2002, sieht er offenbar keinen Ausweg mehr und setzt seinem Leben ein Ende. Er hinterlässt keinen Abschiedsbrief. Sein Jugendfreund Willi Fink erfährt davon in seinem Urlaub in der Steiermark. «Ich weiss es noch so genau, als ob es gestern gewesen wäre. Ich sass in einem Café, als mir sein Tod am Telefon mitgeteilt wurde.»
Braschlers Schwester Sonja ist zu diesem Zeitpunkt gerade bei ihren Eltern, als das Telefon klingelt. «Ich höre noch heute den Schrei von der Mama, als sie erfuhr, dass sich der Mani das Leben genommen hat.» Ihre Stimme gerät ins Stocken, die Tränen kommen.
Mario Pfomann: «Ich war in Italien in den Ferien, als ich davon erfuhr. Das war wie ein Stich mit dem Messer in den Rücken.»
«Er lag da, als ob er einfach schlafen würde»
Denkt seine Schwester Sonja Hansl-Braschler heute an ihren Mani, kommt in ihr vor allem ein Bild hoch: das Bild von der Beerdigung in der Pfarrkirche St. Mauritius in Goldach. «Ich wollte ihn mir eigentlich nicht mehr anschauen, weil ich ihn so in Erinnerung behalten wollte, wie ich ihn gekannt hatte: als lustigen Familienmenschen. Doch dann sagte mir mein Mann, er liege friedlich da und ich solle ihn mir doch anschauen, damit ich danach meine Ruhe hätte.» Sonja hört auf ihren Mann. «Zum Glück. Er lag da, als ob er einfach schlafen würde. Für mich war das gut so.»
Seine Witwe Sandra stürzt sich nach seinem Tod in die Arbeit, bis heute führt sie das Reinigungsinstitut in seinem Namen weiter. Und sie trägt eine Wut in sich. Auch auf Mani. «Ich war wütend, weil er mich alleine mit drei pubertierenden Kindern, Tieren und dem Reinigungsgeschäft zurückliess. Er hatte mir doch immer gesagt, dass er mich gerne früher kennengelernt hätte, und er hatte meine drei Kinder immer wie seine eigenen behandelt. Deshalb fragte ich mich zu Beginn oft: Warum nur hat er uns dann alleingelassen?»
Mittlerweile ist die Wut der Trauer gewichen. «Vorher hatte ich wegen der vielen Arbeit gar nicht die Zeit, richtig zu trauern. Das kam erst in den letzten Jahren.»
Die Frage nach dem Warum beschäftigt auch seine Schwester Sonja bis heute. «Er wird es gewusst haben. Vielleicht erfahren wir es, wenn wir auch oben sind.»
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