«Wusste nicht, ob es in der Schweiz Fussball gibt»
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Vonlanthens bewegtes Leben:«Wusste nicht, ob es in der Schweiz Fussball gibt»

Johan Vonlanthen über sein bewegtes Leben
«Bei Real Madrid wollte mir keiner den Ball geben»

Abenteuerliche Fussball-Karriere, abenteuerliches Leben: Zwei Jahre nach seinem Rücktritt lässt Johan Vonlanthen (34) tief blicken. Das ehemalige Riesen-Talent über die Angst einer fussballlosen Schweiz, seine Fehler, Real und Robben.
Publiziert: 30.06.2020 um 19:52 Uhr
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Aktualisiert: 30.06.2020 um 21:37 Uhr
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Jetzt ist Johan Vonlanthen Spielervermittler (ein Bild vom Juni 2020). Er blickt auf eine bewegende Karriere zurück.
Foto: TOTO MARTI

Das Schweizer Fussball-Auge lacht, wenn es den Namen Johan Vonlanthen sieht. Erinnerungen an sein EM-Tor 2004 in Portugal werden wach. Und es weint, wenn der weitere Karriereverlauf des hervorragenden Kickers zum Thema wird. Dem einstigen Schweizer Fussball-Juwel blieb der Durchbruch auf der ganz grossen Bühne verwehrt.

Zuerst zum Moment, der das Schweizer Fussball-Auge zum Lachen bringt. Der Moment, als der 18-jährige Vonlanthen gegen Frankreich den Ball an Goalie Barthez vorbeischiebt, den Ausgleich erzielt. Zwar verliert die Schweiz das Gruppenspiel gegen Zidane, Henry & Co noch 1:3, doch Vonlanthens Rekord als jüngster EM-Torschütze hält bis heute.

«Wusste nicht, ob es in der Schweiz Fussball gibt»
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Vonlanthens bewegtes Leben:«Wusste nicht, ob es in der Schweiz Fussball gibt»

Diese Geschichte ist bekannt. Neu ist, wie sich Vonlanthen bei diesem magischen Moment selber gefühlt hat. Gegenüber «Goal» und «Spox» gibt der mittlerweile 34-Jährige tiefgründige Details über sein Leben preis. «Dieser Augenblick war unbeschreiblich», so Vonlanthen. Er versuchts trotzdem: «Da sind ganz viele Erinnerungen vor meinem geistigen Auge aufgetaucht. Ich habe an meine Kindheit in Kolumbien gedacht, daran, wie alles angefangen hat.»

Angst vor einer fussballlosen Schweiz

Diese Kindheit hat es in sich. Vonlanthen kommt im kolumbianischen Santa Marta zur Welt, wächst in einem Haus zusammen mit elf anderen auf, kennt seinen leiblichen Vater nicht. Der Fussball am Strand ist sein Ein und Alles. Seine Mutter lernt den Schweizer Roger Vonlanthen kennen, zieht in die Schweiz. Johan und seine beiden Halbgeschwister leben zuerst fünf Jahre bei der Grossmutter in Kolumbien, sie ziehen erst viel später nach, als Johan elf ist. Das erzählte er BLICK vor vier Jahren. Jetzt kommen weitere Anekdoten dazu.

Er erinnert sich, wie er beim Umzug als Kind im Flieger von Kolumbien in die Schweiz sitzt: «Meine grösste Angst war, dass ich nie wieder Fussball spielen kann. Ich wusste nicht, ob dort überhaupt Fussball gespielt wird. Der einzige Schweizer Spieler, den ich kannte, war Stéphane Chapuisat.» Der sei sogar in Kolumbien populär gewesen.

Klar kann er auch in der Schweiz kicken. Bei Flamatt ist Vonlanthen so gut, dass schnell einmal YB anklopft. Und die U-Nati ruft. Als 16-Jähriger debütiert er in der Super League, als 17-Jähriger wechselt er bereits zu Eindhoven. Mit 18 schiesst er das berühmte EM-Tor. Jetzt im Nachhinein beschreibt er seine Gefühlswelt: «Es ging wirklich sehr, sehr schnell. Ich habe mich stets selbst unter Druck gesetzt, mir gesagt, dass ich es unbedingt packen muss. Auch mit Blick auf meine Familie in Kolumbien, die ich als Fussballprofi finanziell unterstützen wollte.»

Das missglückte Probetraining bei Real

Auch die ganz Grossen werfen ein Auge auf Vonlanthen. Kurz vor seinem Wechsel zu PSV Eindhoven 2003 spielt er 10 Tage bei den Junioren von Real Madrid vor. Und weitere Anekdoten kommen zum Vorschein: «Niemand hat mich angespielt, keiner wollte mir den Ball geben. Die einzigen Bälle, die ich bekommen habe, erkämpfte ich mir selbst im Zweikampf oder sie landeten per Zufall bei mir.» Kameradschaft beim Weltklub? Fehlanzeige.

Ganz nebenbei: Auch Inter Mailand sei an ihm interessiert gewesen. Doch in Holland findet der Teenager ein gutes Umfeld vor. Trainer Hiddink, der an ihn glaubt. Mitspieler Robben, der am Anfang seiner glänzenden Karriere steht. Bei ihm ist er oft: «Arjens Wohnung war gleich um die Ecke.» Sie zocken oft zusammen: «So wie er auf dem Fussballplatz gespielt hat, zockte er auch auf der PlayStation. Der absolute Wahnsinn.»

Deshalb konnte er nicht Robbens Weg gehen

Doch ein grosser Unterschied besteht zwischen den beiden Youngsters: «Sein Leben war – im Gegensatz zu meinem – sehr gut organisiert.» Vonlanthen erklärt: «Ich war kein Spieler, der häufig auf Partys ging oder andere Dinge im Kopf hatte. Aber ich habe beispielsweise mehrmals verschlafen und kam zu spät ins Training.»

So kommt es, dass sein disziplinierter Kumpel Robben über Chelsea und Real bei Bayern München landet, während Eindhoven für Vonlanthen bald einmal einen Leihklub (Brescia, dann Breda) sucht. Die Karriere des jungen Schweizers gerät ins Stocken. Trotz Highlight an der EM 2004. Vonlanthen: «Arjen Robben, der etwas älter als ich war, hatte zum Beispiel immer seine Familie um sich herum und wurde bestmöglich unterstützt. Als ich realisiert habe, dass es in meinem Fall anders war, kamen die Probleme.»

«Alleinsein im Ausland komplett unterschätzt»

Vonlanthen schafft den Durchbruch nicht. Er wechselt 2006 zu Salzburg. 2009 zum FCZ. Und 2011 als 25-Jähriger aus dem Blickfeld des europäischen Fussballs nach Kolumbien zu Itagüi. Eine Glaubensfindungsphase spielt dabei auch mit. «Jesus hat die totale Kontrolle über mich», schreibt er zum Beispiel in einem offenen Brief kurz nach seinem Rücktritt 2018. GC, Schaffhausen, Servette und Wil waren davor seine weiteren Stationen.

Jetzt ist Vonlanthen Spielerberater. Eines seiner Fazits beim Rückblick auf seine abenteuerliche Karriere? «Ein gefestigtes Umfeld ist unglaublich wichtig. Ich habe das Alleinsein im Ausland komplett unterschätzt.» Und da wären wir beim weinenden Auge über seine Karriere, die nicht ganz wunschgemäss verlaufen ist. Nach Vonlanthens tiefen Einblicken in seine persönliche Geschichte lassen sich Knicks in der Karriere des einstigen Riesen-Talents allerdings besser nachvollziehen. (str)

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