Gestern Abend kurz vor 19 Uhr, der Himmel über Zürich ist stahlblau. Fifa-Präsident Sepp Blatter (79) steht auf dem Zürichberg vor der Presse – und tritt zurück. «Ich stelle mein Mandat zur Verfügung», sagt Blatter. 40 Jahre diente der quirlige Oberwalliser dem Weltfussballverband. Noch am Freitag liess er sich ein fünftes Mal zum Präsidenten wählen. Und somit zum mächtigsten Mann des Sports.
Partout schloss er einen Rücktritt aus. «Warum soll ich zurücktreten?», sagte er dem Schweizer Fernsehen. «Das würde ja bedeuten, das ich etwas falsch gemacht habe.» Sicher noch «vier Jahre werde ich das Schiff Fifa steuern».
Und jetzt geht er doch? Dann hat er etwas falsch gemacht? Liegt gegen ihn etwas Belastendes vor? Oder reicht ihm die Wiederwahl von letzter Woche für sein Vermächtnis? Oder sind es private Gründe?
Noch am Kongress im Hallenstadion in Zürich-Oerlikon beteuerte Blatter, den Fussball vom Ruch der Korruption befreien zu wollen – als Präsident. «Ich habe die Verantwortung für das Wohl dieser Organisation.»
Bei seinem Abgang gestern tönt er anders, verbittert, geknickt. «Die Wahlen sind vorbei, aber die Verwicklungen der Fifa haben kein Ende genommen in dem Skandal.» Blatter sagt: «Ich möchte nur das Beste für die Fifa.» Und das scheint jetzt Blatters Rücktritt zu sein.
Fast sicher scheint: Die Amerikaner haben Blatter aus dem Amt gejagt. Gegenüber der «New York Times» bestätigten amerikanische Ermittler, dass der abtretende Fifa-Präsident im Fokus einer Strafuntersuchung wegen Korruption ist. Auch der US-Fernsehsender ABC vermeldete, Blatter sei im Visier der Justiz.
Im besten Fall wollen die Amerikaner mit Blatter als Zeuge sprechen, im schlechtesten klagen sie ihn an.
Eine Überraschung ist all das nicht. Die Amerikaner gehen nach einem altbekannten Drehbuch vor. Bereits bei den Schweizer Banken wendeten sie es an. Täglich erhöhen sie den Druck. Am Mittwoch liessen sie sieben Fifa-Funktionäre im Hotel Baur au Lac in Zürich verhaften. Im Voraus informierte US-Reporter inszenierten die Verhaftung als globales und vorverurteilendes Spektakel. Am selben Tag präsentierte die US-Justiz eine 166 Seite starke Anklageschrift, die Korruption und Bestechung bei der Fifa offenlegte.
Besonders heftig: Für die Vergabe der WM 2010 in Südafrika sollen die Fifa-Funktionäre Jack Warner (72) und Chuck Blazer (70) zehn Millionen Dollar erhalten haben. Gestern der Knall in der «New York Times». Fifa-Generalsekretär Jérôme Valcke habe das Geld 2008 von einem Fifa-Konto in der Schweiz in die USA überwiesen. Valcke ist einer der engsten Mitarbeiter Blatters und nun im Visier der USA.
Heute Mittwoch veröffentlicht die amerikanische Bundespolizei FBI das Protokoll des Verhörs von Blazer. Er gilt als Kronzeuge. Womöglich gibt die US-Justiz offiziell bekannt, dass sie gegen Blatter ermittelt. Dann wäre er mit seinem Rücktritt einem Rauswurf zuvorgekommen.
Fürchten muss der Walliser überdies eine fiese Taktik der Amerikaner: Sie werden die anderen angeklagten Fifa-Funktionäre gegeneinander ausspielen, in der Hoffnung, alle schwärzen einen anderen an – um die eigene Haut zu retten. Am Schluss dieses Dominos stünde – Sepp Blatter.
Die Fifa scheint in Panik. Gestern Morgen sagte Generalsekretär Valcke seine geplante Reise nach Kanada zur Eröffnung der Frauen-WM ab. Wohl aus Angst, dort verhaftet und an die USA ausgeliefert zu werden.
Noch letzte Woche beteuerte Fifa-Sprecher Walter de Gregorio (50) zu BLICK, Blatter werde Ende Juni zum Finalspiel nach Vancouver reisen. Kaum denkbar, dass Blatter nun an die Frauen-WM reist. Ihm droht die Verhaftung durch die kanadische Polizei – und eine Befragung in den USA. Entzöge er sich dieser Befragung, würden ihn die Amerikaner ausschreiben. Sicher vor einer Auslieferung wäre Blatter dann nur noch in der Schweiz.
Druck auf Blatter dürften zudem die Fifa-Sponsoren ausüben. Sie tragen 1,6 Milliarden Dollar zum Umsatz von 5,7 Milliarden Dollar bei. Weltkonzerne wie Coca-Cola, McDonald’s oder Adidas wollen nicht mit Korruption und Bestechung in Verbindung gebracht werden. Möglich, dass sie deshalb Blatters Rücktritt verlangt hatten. Und mit der Einstellung ihrer Zahlungen drohten.
Oder sind es doch andere, private Gründe, die ihn zum Rücktritt bewogen haben? Als BLICK Joseph Blatter letzte Woche traf, wirkte er zermürbt und müde. Schlagzeilen wie «Hau ab!», «Tschau Sepp», «Jetzt reichts, Herr Blatter» oder «Schande und Beschämung» setzten ihm zu.
Fühlte er sich zu erschöpft für den Job? Oder drängte ihn die Familie zum Abgang? Vor vier Jahren drohte seine Tochter Corinne (54), sie werde ihn eigenhändig aus dem Fifa-Kongress zerren, sollte er 2015 wieder kandidieren. Drängte sie ihn zum Rücktritt? Sie sagte gestern zu BLICK: «Seine Entscheidung hat nichts, aber auch gar nichts mit den kursierenden Anschuldigungen zu tun.» Und: «Mit dieser Entscheidung wollte er auch uns, seine Familie, schützen.»
Stets habe er sein Privatleben dem Fussball geopfert, sagte Blatter. «Meine Geliebte ist die Fifa, meine Familie der Fussball», so Blatter 2008 zu BLICK. «Ich habe mein ganzes Leben in den Job investiert.» Auf die Nachfrage, ob das unter dem Strich aufgehe, sagte er: «Nicht immer.»
Seit zwei Jahren liebt der 79-jährige Walliser die Walliserin Linda Gabrielian (51). Geht er, weil er seine Kraft nur noch einer Geliebten widmen will?
Irgendwann zwischen Dezember 2015 und März 2016 wählt die Fifa einen Nachfolger. «Wir brauchen jetzt Zeit, den bestmöglichen Kandidaten zu finden», sagte Blatter gestern vor der Presse. «Wir müssen grosse Reformen einleiten.»
Ihm sei nur etwas wichtig: «Dass, wenn alles vorbei ist, der Fussball der Gewinner ist.» Er bedankte sich bei «Unterstützern und Wegbegleitern» und verliess den Saal. Fragen von Journalisten beantwortete er nicht mehr.