Es ist ein schöner Frühlingstag im Jahr 1998. Bei einem Spaziergang durch das Kinderdorf Pestalozzi im appenzellischen Trogen erzählt Dorjee Tsawa die bewegende Geschichte von seiner Familie. Dorjee ist damals 22 Jahre alt und als Fussballprofi ein Leistungsträger beim FC St. Gallen. Der kampfstarke Abwehrspieler mit tibetischen Wurzeln sorgt für Schlagzeilen.
Sein Vater Pema flüchtet 1959 vor den brutalen Übergriffen der Chinesen aus seinem tibetischen Heimatdorf, das auf 4200 Meter liegt. Es ist das Jahr, indem auch der Dalai Lama, der buddhistische Führer der Tibeter, die Heimat fluchtartig verlassen muss.
Der sechsjährige Pema Tsawa wandert 1959 während Monaten mit seinen Eltern über das Himalaya-Gebirge nach Nepal und weiter nach Indien. Das Ziel ist ein Flüchtlingsheim in Deutschland.
Einige Jahre später lernt Pema bei einem tibetischen Fest seine Frau Tselha kennen. Auch sie ist ein Flüchtlingskind, das im Kinderdorf Pestalozzi Unterschlupf gefunden hat.
Die beiden heiraten, gründen eine Familie und haben zwei Söhne. Sie wohnen und arbeiten weiter im Kinderdorf Pestalozzi. Ihr Haus ist auch das Zuhause von elf Waisen- oder Flüchtlingskindern, die bei ihnen aufwachsen. «Unterschiede gab es keine. Wir waren einfach dreizehn Kinder», sagt Dorjee.
Und diese Kinder haben viel Fussball gespielt. Meist das Team Tibet/Kambodscha gegen den Rest der Welt. Dorjee lernt in seinem vom buddhistischen Glauben geprägten Elternhaus Demut und Verzicht, aber auch Disziplin und Durchsetzungsvermögen. Und er erkennt bald, «wie viel Glück ich hatte, dass ich bei meinen eigenen Eltern aufwachsen durfte. Ich habe bei anderen Kindern viel schreckliches Heimweh gesehen.» Ein unvergesslicher Höhepunkt seiner Jugend ist der Besuch des Dalai Lama im Kinderdorf.
Erst Vater Dorjee jetzt Sohn Cheveyo beim FCZ
Dorjee Tsawa macht eine tolle Fussballerkarriere, spielt auch für den FCZ, für Xamax, für Bellinzona und für Schaffhausen. 2006 ist er in Hamburg der einzige Profi in der Nationalmannschaft des Tibet, das beim FIFI Wild Cup, der alternativen Weltmeisterschaft, in St. Pauli gegen Nordzypern, Gibraltar, Grönland und die «Republik St. Pauli» spielt.
Mittlerweile arbeitet Dorjee im Trainerstab des FC Zürich und ist Vater von vier Kindern. Im Garten seines Einfamilienhauses in der Ostschweiz hat er einen Kunstrasenplatz gebaut.
Eine Investition, die sich auszahlt. Denn vor zwei Wochen läuft sein ältester Sohn, der 17-jährige Cheveyo Tsawa, erstmals für die FCZ-Profis auf. «Er hat meinen Willen und meine Kampfkraft. Aber technisch ist er besser als ich», schmunzelt Dorjee. Eine seiner Töchter spielt bei der U14 des FC St. Gallen, die andere macht Leichtathletik. Und der jüngste Sohn spielt noch bei Brühl.
Das Schicksal der Familie Tsawa, ihr soziales Engagement im Kinderdorf Pestalozzi, verbunden mit dem Weg von Dorjee Tsawa ist eine wunderbare Geschichte des Schweizer Fussballs. Und dank seiner talentierten Kinder dürften noch einige Kapitel dazukommen.
Leider kann Pema Tsawa, dessen Weg über den Himalaya bis ins Kinderdorf im Appenzellerland geführt hat, die Entwicklung seiner Enkelkinder nicht mehr miterleben. Er ist im Alter von 70 vor zwei Jahren gestorben. Sein Geist lebt weiter. «Ich versuche, meinen Kindern einen Teil der tibetischen Tradition mit auf den Weg zu geben», sagt Dorjee.