Frau Konietzka, wie geht es Ihnen?
Es gibt bessere und schlechtere Tage. Manchmal geht es mir ganz gut, manchmal weine ich viel. Ich konnte mich letzte Woche bei einem befreundeten Ehepaar in den Bündner Bergen ein wenig erholen, bin sehr liebevoll betreut worden.
Ihr Mann Timo schied mit Exit aus dem Leben. In der Öffentlichkeit wusste niemand, dass er krank ist. Wie lange hatte er schon Gallenkrebs?
Er hatte sich Ende Januar in der Nacht mal erbrochen. Ich dachte an nichts Böses. Doch plötzlich bekam er ganz gelbe Augen. Er ging zum Arzt, ich glaube, er hatte ein wenig Angst, weil er familiär vorbelastet ist. Von seinen vier Geschwistern starb einer an Knochenkrebs, einer an Lungenkrebs – obwohl er nie geraucht hatte – und eine Schwester hat Brustkrebs. Nach weiteren Untersuchungen stellte man ein Gewächs in der Galle fest, aber das muss ja nicht bösartig sein. Der Schock kam dann später.
Was passierte?
Es war am Freitag Mittag, der Tag nach der Fasnacht, wo er als Bartlivater der höchste Fasnächtler war. Ein Arzt sagte mir: «Frau Konietzka, es sieht schlecht aus. Wir können wohl nichts mehr machen.» Ich war geschockt, ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet. Er hatte so einen bösen Krebs, den bemerkst du erst, wenn du gelbe Augen bekommst und dann ists schon zu spät. Dabei hatte sich Timo immer so gesund ernährt. Er hat für Gesundheits-Ware etwa gleich viel ausgegeben wie ich für Zigaretten, und das ist viel Geld…
Claudia Konietzka steht auf, läuft zur offenen Küche. Sie zeigt Feigen, Glaubersalz, Gesundheits-Tees und Haferflocken. «Jeden Tag nahm er sein Müesli. Aber sobald er die Krebs-Diagnose hatte, fasste er diese gesunden Sachen nicht mehr an, er war sauer», sagt sie.
Sauer?
Ja. Er war der fest überzeugt, mit seinem gesunden Lebensstil hundert Jahre alt zu werden. Er telefonierte immer mit seinem 80-jährigen Bruder, der sich auch so ernährt. Aber eben… Im Spital hatte er schon zehn Kilo abgenommen, er hatte keinen Appetit mehr. Dann bekam er zwei Schläuche in die Seite, damit die Gallenflüssigkeit ablaufen kann. Er hasste diese Schläuche, fragte noch Stunden vor seinem Tod, wann er sie wegnehmen kann. Ich sagte ihm: «Timo, das geht erst, wenn du gestorben bist. Dann spürst du nichts mehr.»
Im Spital fühlte sich Timo unwohl von seinem Naturell her, oder?
Ja. Er sagte mir am Dienstag, sechs Tage vor seinem Tod, sie würden ihn gleich zum Röntgen holen. Aber er wolle nicht mehr. Er wolle einfach nur noch nach Hause. Es war ja nichts mehr zu machen und er hatte trotz Morphium solche extremen Schmerzen. Ich holte ihn sofort ab.
Wann fiel sein Entscheid, sich mit einem Cocktail zu töten?
Das war in der zweiten Nacht nach seiner Rückkehr aus dem Spital, von Mittwoch auf Donnerstag. Wir lagen gemeinsam im Bett und Timo sagte zu mir: «Ich will sterben.»
Wie gingen Sie damit um?
Wir hatten uns das schon beide gegenseitig lange versprochen, dass wir es so machen, wenn einer unheilbar krank ist. Ich rief am Morgen Exit an. Dann kam ein etwa 70-jähriger Mann, der uns alles erklärte. Ein sehr netter Mensch. Ich merkte, dass es Timo besser ging nach diesem Gespräch. Wir machten für Montag ab, es war klar, dass der Sterbehelfer um halb drei Uhr nachmittags mit dem Zug hier in Brunnen ankommt.
Hatte er nie Zweifel?
Nein. Ich habe ihm jeden Morgen gesagt: «Timo, du weisst, du musst es nicht tun.» Aber er wollte es so machen - in zwei Monaten wäre er sonst eh gestorben. Er wollte sich die weiteren Schmerzen ersparen. Am Abend nach dem Gespräch konnten wir dann beide nicht schlafen. Ich sagte zu Timo: «Komm, ich gehe in die Stube, dann kannst du sicher schlafen.» Aber kaum hatte ich mich hingesetzt, kam er auch schon. Wir haben zusammen ein Bierchen aufgemacht und getrunken. Und eine Stunde lang unglaublich schön zusammen geredet. Es tönt blöd, aber wir hatten eine wunderschöne Zeit zusammen zum Schluss, neben all der Traurigkeit. Er bekam dann mit der Zeit blöde Gedanken.
Inwiefern?
Es kam dann halt schon immer näher, er überlegte viel. Aber ich bin froh, dass er nur drei Tage runterzählen musste und nicht zwei Monate. Ich habe ihn zuhause in jenen Tagen gepflegt, ihm Morphium gespritzt. Am letzten Wochenende vor seinem Tod kamen sein Sohn aus München und dessen Frau vorbei. Der Sohn ging aber am Sonntag heim. Er sagte, er packe das alles nicht.
Dann kam der Montag, der Todes-Tag. Können Sie die letzten Stunden beschreiben?
Timo stand schon mitten in der Nacht auf, fragte: «Wann kommen die von Exit jetzt?» Ich sagte ihm, das dauere noch, es sei noch Nacht. Wir sind dann morgens um halb sechs Uhr aufgestanden. Timo wollte unbedingt nochmal frisches Brot haben. Ich bin losgefahren zum Bäcker und wählte ein dunkles und ein helles Brot aus, von denen ich wusste, dass Timo es gern hat. Dann haben wir gefrühstückt, er nahm drei Scheiben von beiden Sorten und wir tranken Champagner. Dom Pérignon, nur das Beste.
Wie ging der Tag weiter?
Wir haben uns zusammen nochmals ein bisschen hingelegt. Und dann haben wir zu Mittag gegessen, ein Piccata mit Risotto. Dann hat er seine Kette abgenommen und mir um den Hals gelegt. Ich werde sie nie mehr ausziehen.
Wer war denn dabei an jenem Tag?
Meine Irma, eine langjährige Freundin. Eine Freundin von der Spitex. Und zwei enge Freunde von uns. Und der Sterbehelfer. Ihr vom BLICK habt ja am Mittag angerufen, weil es hiess, Timo sei schon tot. Er rief nur: «Und jetzt?» Sein typischer Humor. Später sassen wir hier alle zusammen an diesem Tisch, haben noch ein Glas Champagner getrunken. Dann stand Timo auf und sagte: «Also!»
Haben Sie mit Timo darüber im Vorfeld gesprochen, wie es ablaufen soll?
Ja. Ich sagte ihm, dass ich immer bei ihm sei, bis er trinkt. Dann müsse ich aber ein bisschen an die frische Luft, sobald er weg ist. Ich hatte solche Angst, dass er dann Krämpfe bekommt oder so. Das hätte ich nicht ertragen können.
Wie lief es dann ab?
Am Tisch bekam er erst ein Mittel gegen Erbrechen. Dann zog er sein Edelweiss-Hemd an, das Küehli blieb in seinem Ohr drin, er wollte es so. Er sagte noch, er sehe aus wie ein Schwinger-Präsident. Danach legte er sich ins Bett und nahm den Trunk.
Wie muss man sich diesen Trunk vorstellen?
Das sind etwa zwei Schlücke. Es schmeckt sehr bitter, deswegen habe ich ihm noch ein Glas Sirup gebracht. Ich hätte den Trunk ja runtergestürzt, aber Timo nahm mal einen Schluck, schaute das Glas nochmals an, nahm wieder ein Schlückchen. Dann ist er eingeschlafen wie bei einer Narkose.
Es ging fast drei Stunden bis zum Tod. Eigentlich sollte es doch nur 10 bis 30 Minuten dauern.
Ja. Aber er ist so friedlich eingeschlafen. Ich war dann aber eigentlich doch die ganze Zeit bei ihm, habe mich neben ihn hingelegt, habe ihn gestreichelt. Und ihm zugeredet. Er atmete mal schwerer, mal ein bisschen weniger. Dann sagte ich: «Timo, du musst nicht mehr atmen. Geh zu deiner Mutter.» Nach diesem Satz machte er seinen letzten Atemzug. Ich sagte im Scherz: Dieser Mann, der hört auf mich, bis zum letzten Atemzug. Vorher sagte er drei Mal zu mir: «Danke, dass du das für mich machst.» Ich antworte ihm: ««Gern geschehen» kann ich dir nicht sagen.» Ich fing an zu weinen.
Was passierte nach dem Eintreten des Todes um 18.52 Uhr?
Der Sterbehelfer musste die Polizei anrufen, sie kam vorbei und untersuchten Timo. Dass Fremdeinwirkung ausgeschlossen werden kann. Dann kam der Bestatter und bettete Timo in einen schönen Holzsarg. Man schloss ihm den Mund und machte, dass er richtig schön aussah.
Timo wurde kremiert, eine Beerdigung wollte er nicht. Warum?
Er glaubte nicht an die Kirche. Und dann wäre es nur ein Schaulaufen der vielen Leute, meinte er.
Was passiert mit seiner Asche?
Es gibt einen speziellen Ort hier in der Region, wo es ein bisschen bergig ist. Dort werde ich seine Asche ausstreuen. Und später soll auch meine dort verteilt werden, bei Timo.
Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt?
Vor 20 Jahren an der Fasnacht in Gersau. Ich sagte: «Ich will doch keinen Deutschen!» Doch dann funkte es eben doch. 17 Jahre waren wir nun verheiratet. Er war ein toller Mensch.
Timo wünschte ausdrücklich, dass man nicht kondoliert. Halten sich die Leute dran?
Es geht. Aber unangenehm ist es, wenn Leute nicht einfach fragen können: «Wie gehts?» Sondern mit einer Mitleidsstimme kommen und fragen: «Gehts?» Jeder will es ja nur richtig machen, ich weiss... Aber es geht mir einfach nicht gut. Und der Umsatz in meinem Restaurant Ochsen ist um zwei Drittel eingebrochen.
Ernsthaft?
Ja, ich glaube, die Leute wissen nicht, wie sie mir begegnen sollen. Wobei mir der Umsatz völlig egal ist.
Wie soll man denn auf Sie zugehen?
Einfach normal. Nicht kondolieren und keine Mitleidsstimme machen. Übrigens: Ich musste Timo versprechen, keinen Mann mehr in mein Leben zu lassen.
Wirklich?
Ja, seine grösste Angst war immer, dass irgendein Trottel, der nicht arbeitet, dann sein Geld verprasst.
Konnten Sie ihm das versichern?
Natürlich. Ich werde nächstes Jahr 60, bin nicht mehr so kribbelig. Für was brauche ich einen neuen Mann? Um die Wäsche zu machen? Nein, ich habe hier tolle Menschen um mich.
Und auch Ihre Familie. Sie haben hier ein Foto von Ihrem dreijährigen Enkel Gregory und Ihrem Mann. Er liebte den Jungen.
Das ist so, er ging sogar mit ihm Enten füttern, was er früher nie gemacht hätte. Der Kleine wollte mit Opa immer im obersten Stock rumrennen, auf seiner Bahn, wo er die Tempo-Läufe jeweils machte. Timo spielte da mit dem Kleinen kurz vor seinem Tod noch, auch wenn er dann gegen Ende sehr müde war. Der Kleine war gnadenlos. Wenn Opa mal die Augen schloss, meinte er: «Opa, nicht schlafen, mit mir spielen.»
Wie erklären Sie ihm, dass sein Grossvater tot ist?
Letzten Sonntag sagte er mir noch: «Ich will dann wieder mit Opa spielen, wenn der kein Aua mehr hat.» Mich hat es innerlich fast zerrissen. Ich werde ihm sagen: «Opa spielt jetzt mit den Engeln.»
Timo glaubte nicht an die Kirche und an den Himmel. Er sagte, nach dem Tod seist du einfach weg, es sei alles vorbei.
Ich bin mir nicht sicher, ob er das in den letzten drei Tagen seines Lebens auch so sah. Ich glaube, er fing doch noch an, zu glauben, dass es vielleicht doch wieder geht. Meine Tochter sagte zu mir, ich müsse die Erzengel und Timos Mutter anrufen, sie würden Timo dann in Empfang nehmen im Himmel. Sie glaubt an solche Dinge, und ich will es auch nun.
Sie sind auch Mitglied bei Exit. Werden Sie auch so sterben?
Ich hatte eigentlich vorher Angst davor. Nun aber nach der Erfahrung mit Timo ist diese weg. Ich meine, er hätte nur noch zwei Monate zu leben gehabt. Wäre er zum Beispiel im Rollstuhl gewesen, hätte ich ihm schon beigebracht, dass ich ihn nun jahrelang pflege und das Leben auch ohne zu laufen einen Sinn hat. Aber so machte es keinen Sinn mehr, er war schwer krank und hatte ganz schlimme Schmerzen. Und: Ja, wenn ich todkrank bin, will ich auch so sterben.