Tranquillo Barnetta (34) schaut auf seine Karriere zurück
«Ich traute mich nicht mal an die Mini-Bar»

Mit BLICK redet Tranquillo Barnetta (34) vor seinem letzten Profi-Auftritt beim FC Zürich über eine Tüte Chips, Neid, Jupp Heynckes und den Stoppball.
Publiziert: 25.05.2019 um 01:02 Uhr
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Aktualisiert: 25.05.2019 um 17:11 Uhr
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Tranquillo Barnetta steht gegen den FC Zürich das letzte Mal als Profi auf dem Feld.
Foto: EDDY RISCH
Michael Schifferle, Andreas Böni (Interview) und Eddy Risch (Fotos)

Kurz war auch er ergriffen, der Routinier, der im Profi-Fussball alles erlebt hat. Mit einer grandiosen Choreografie würdigen die St. Galler Fans ihr grosses Idol Tranquillo Barnetta. Der trifft zum Abschied beim 4:1 gegen Meister YB. Die 13 957 Fans erheben sich bei seiner Auswechslung. Barnetta zieht seine Treter aus und hängt sie an ein Holzbrett. Einer der Grössten, die je Grün-Weiss trugen, hat zumindest in St. Gallen fertig. Bevor er heute zum letzten Mal als Profi kickt, im Letzigrund gegen den FCZ, empfängt er BLICK, um zu schwelgen und vorauszublicken. Die Choreo? «Happig.» Und auch Mutter Andrea, die Kaffee bringt, ist ergriffen: «So schön. Es ist fast zu viel.» 

BLICK: Bevor wir über Ihre Höhepunkte reden: Es gab auch Tiefen. Eines Ihrer ersten Tore schossen sie im November 2002 gegen den FC Wil: mit einer verunglückten Flanke, die sich ins Tor senkte. St. Gallen verlor aber historisch hoch: 3:11.
Barnetta:
Einer der Tiefpunkte meiner Karriere. Gerade als 17-Jähriger war das schwer zu verdauen.

Welche Erinnerung würden Sie sonst gerne streichen?
Meinen Penalty an der WM 2006. Das war ein brutaler Rückschlag. Und ich würde mich heute anders verhalten.

Inwiefern?
Ich schlich mich raus, ohne mit jemandem zu reden. Heute würde ich mich den Medien stellen und im schlimmsten Fall eine Plattitüde bringen: «Penaltys sind eine Lotterie». Oder Ähnliches (lacht). Jedenfalls ist alles besser, als sich nicht zu stellen.

Köbi Kuhn hätte den sichersten Schützen Alex Frei auch nicht vor dem Penaltyschiessen auswechseln müssen.
Stimmt. Aber Alex wäre als Letzter dran gewesen – also hätte er ohnehin nicht geschossen. Und dass er Mauro Lustrinelli für Alex brachte, hat den Grund, dass Mauro mein Tor zuvor gegen Togo vorbereitete. Vielleicht hoffte Kuhn auf einen ähnlichen Effekt.

Das 2:0 gegen Togo vor 50'000 Schweizern in Dortmund – der Höhepunkt Ihrer Laufbahn?
Auf jeden Fall. Zumal ich mein Tor vor der gelben Wand schoss, wo dieses Mal alles rot war. Meine zwei Tore im Wembley 2011 gegen England in der EM-Quali sind ein anderes Highlight.

Ihr EM-Debüt gaben Sie 2004 als 19-Jähriger. Sie hätten gestaunt wie ein Schulbub, sagten Sie mal.
Ich weiss noch genau, wie ich ins Hotel in Zürich einrückte und alle die sah, die ich fast aus nur aus dem TV kannte: Jörg Stiel, Stéphane Chapuisat, die Yakins. Keine Ahnung, ob ich sie gesiezt habe. Wir hatten alle ein Einzelzimmer damals  – das war ganz neu für mich. An die Mini-Bar traute ich mich an den ersten Tagen nicht ran. Eine Tüte Chips nahm ich mal, mehr nicht. Weil ich glaubte, dass es sonst zu teuer werden würde für mich. Dass alles inbegriffen war, wurde mir erst später klar. Naiv nennt man das wohl (lacht). Sonst fand ich schnell Anschluss, beim Jassen etwa.

Wird im St. Galler Team noch gejasst?
Der Nachwuchs fehlt. Damit wir vier finden, die das können, muss ein Physio aushelfen.

Ihr Abgang aus der Nati war unschön. Vladimir Petkovic bot Sie 2015 nicht mehr auf, ohne mit Ihnen zu reden.
Darüber war ich sehr enttäuscht. Als ich bei Schalke kaum gespielt habe, bot er mich noch auf. Als ich aber Stammspieler war und Champions League spielte, plötzlich nicht mehr – ohne dass man mir etwas gesagt hat. Aus sportlicher Sicht muss man den Entscheid akzeptieren. Aber die Art und Weise hat mich getroffen.

Wie beurteilen Sie den Doppeladler im Rückblick?
Als Aussenstehender finde ich, hat man den Fall schlecht gehandhabt. Und das betrifft alle Verantwortlichen. Man hätte sofort hinstehen und sich erklären müssen. Dann wäre die Geschichte nicht eskaliert. Es ist alles eine Frage der Kommunikation. Schon zu unserer Zeit hatten Doppelbürger zwei Flaggen auf ihre Schuhe gestickt. Aber heisst das, dass sie weniger für die Schweiz geben? Sicher nicht.

Frühere Nati-Kollegen sind jetzt Trainer: Magnin beim FCZ, Wicky zuvor in Basel. Christoph Spycher ist Sportchef in Bern. Was machen Sie?
Ich werde weder Trainer noch Sportchef. 20 Jahre lang hat sich alles um den Fussball gedreht. Nun tuts mir gut, in eine andere Richtung zu schauen. Bei meinem Bruder habe ich auch schon im Online-Handel Klub­trikot.ch reingeschaut. Das hat Spass gemacht.

Sportlich machte es im Herbst 2018 keinen Spass: Trainer Peter Zeidler setzte zu Beginn nicht auf Sie. 
Keiner in St. Gallen wollte, dass ich scheitere. Aber dass ich keine Rolle spielte, verstand ich nicht – zumal ich in Trainings und bei meinen wenigen Einsätzen gemerkt habe, dass es sicher reicht.

Zeidler hat zugegeben, dass er mit seiner Einschätzung falsch lag.
Ja, das macht auch nicht jeder. Wir haben ein gutes Verhältnis.

Selbstzweifel hatten Sie keine?
Nein. Ich konnte mich immer einschätzen. Und mir wurde ja gesagt, dass ich super trainiere. Zudem hatte ich immer Spass mit den Jungs.

Sie kamen als Star, spielten zunächst aber kaum. Beklagt haben Sie sich nie. Sind Sie kein bisschen eitel?
Selten. Aber ich habe schon das Gefühl, dass in der Schweiz mit grossen Spielern anders umgegangen wird als in Deutschland oder den USA. Da haben verdiente Spieler eher einen Bonus. Nicht dass ich einen Sonderstatus verlange, aber zwischendurch hatte ich das Gefühl, dass meine Leistungen besonders kritisch gesehen werden, auch von den Medien. Da habe ich vielleicht ein bisschen Wertschätzung vermisst.

Spielt da die Neidkultur mit?
Schwer zu sagen. In den USA jedenfalls habe ich das nicht erlebt. Da sind auch die Löhne öffentlich. Und keinen kümmerts, wenn ein anderer mehr verdient. Die Meinung ist eher: Dann muss er es auch verdient haben.

Mussten Sie sich in Ihrer Karriere oft auf die Zunge beissen?
Das muss jeder zwischendurch, auch ich. Aber nicht erst, seit ich wieder in St. Gallen bin.

Ein Beispiel?
Als Medien (auch BLICK; Red.) meldeten, dass ich im Sommer 2018 zurücktrete – ohne dass es stimmte. Da würde man den Beteiligten gerne ein paar warme Worte mitgeben.

Warme Worte gabs zuletzt auch von den Ex-Kumpels. René Adler nannte Ihre Wohnung in der Kölner Innenstadt «das Auffangbecken für im Nacht­leben gestrandete Fussballprofis».
Sicher die halbe Mannschaft aus dieser Leverkusener Zeit hat mal bei mir übernachtet. Es war meist besser, als noch Auto zu fahren.

Praktisch wars vor allem für Sie.
Ja. Aber selbstverständlich war ich immer daheim, wenns an der Tür geklingelt hat, und nicht selbst unterwegs (lacht).

Wer war eigentlich Ihr bester Mitspieler?
Da gibts ein paar. Wenn ich einen nennen muss, dann den deutschen Ex-Nati-Spieler Bernd Schneider. Der konnte am Ball alles.

Und menschlich?
Pirmin Schwegler, Christoph Spycher und Manuel Friedrich (Leverkusen-Spieler, d. Red).

Ihr bester Trainer?
Jupp Heynckes. Er wusste exakt, wie er mit uns umgehen muss. Aber ich habe von jedem was mitgenommen. Auch von Bruno Labbadia, mit dem ich nicht besonders gut auskam. Aber wie er uns ein Siegergen einimpfen wollte und selbst im Fussball-Tennis immer verbissen um den Sieg gekämpft hat, hat mir imponiert.

Was beurteilen Sie Ihre jetzigen Chefs: Präsident Matthias Hüppi und Sportchef Alain Sutter? Sie setzen voll auf den Nachwuchs.Grundsätzlich ist es gut, auf Junge zu setzen. Aber jeder Junge braucht Stützen, an denen er sich orientieren kann. Nehmen wir Silvan Hefti (21-jähriger Captain). Er blüht unheimlich auf, seit er Milan Vilotic (33, d.Red.) an seiner Seite hat. Vielleicht wäre er auch ohne ihn aufgeblüht. Aber Milan tut ihm gut. Die Gefahr, dass Junge kaputt gehen, wenn man zu viel von ihnen erwartet, ist gross.

Und doch können Sie gar noch den direkten Einzug in die Europa League schaffen.
Ja. Jeder tut nun alles, um kein Gegentor zu erhalten. Das war nicht immer so.

Warum?
Eben: Weil wir ein junges Team sind. Konstanz fehlt. Aber dass wir stabiler sind, seit Milan oder auch ich regelmässig spielen, hat sicher seine Logik.

Was trauen Sie der Mannschaft nächstes Jahr zu?
Dazu kann ich nicht viel sagen. Momentan gibt es ja fast nur Abgänge, es wird sich also noch einiges tun. Warten wir ab.

Gehen Sie an die Spiele?
Wenn ich da bin, sicher. Dann aber mit Bratwurst und vielleicht einem Bier.

Haben Sie Angst, zuzunehmen?
Meine 70 Kilo werde ich nicht halten können. Aber bezüglich Gewicht habe ich zum Glück eher die Gene meiner Mutter und nicht die des Vaters (lacht).

Wie halten Sie sich fit? Bei den Senioren, wie es Marco Streller oder Alex Frei taten und tun?
Kaum. Vorerst will ich eher meinen Stoppball im Tennis verbessern.

Tranquillo Barnetta

Ur-Espe – Tranquillo Barnetta war von 2002 bis 2019 Profi beim FC St. Gallen, Hannover, Leverkusen, Schalke, Frankfurt und Philadelphia. Für die Schweizer Nati spielte er 75-mal und schoss 10 Tore. Mit ihr nahm er an fünf grossen Turnieren teil. Seit zehn Monaten ist er Vater eines Sohnes.

Ur-Espe – Tranquillo Barnetta war von 2002 bis 2019 Profi beim FC St. Gallen, Hannover, Leverkusen, Schalke, Frankfurt und Philadelphia. Für die Schweizer Nati spielte er 75-mal und schoss 10 Tore. Mit ihr nahm er an fünf grossen Turnieren teil. Seit zehn Monaten ist er Vater eines Sohnes.

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