Die verrückte Karriere von Servette-Stürmer Mychell (30)
Vom Starbucks in die Super League!

Als seine Kumpels im Fussball durchstarten, verkauft Mychell Chagas erst Kaffee, dann Kleider. Nun spielt er mit 30 erstmals Super League.
Publiziert: 29.09.2019 um 11:10 Uhr
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Aktualisiert: 15.06.2023 um 00:05 Uhr
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Mychell Chagas arbeitete bei Starbucks.
Foto: freshfocus
Michael Wegmann, Dario Dietsche

Ein normaler 30-jähriger Fussballer macht sich Gedanken übers Karriereende. Servette-Stürmer Mychell Chagas nicht. «Warum auch? Ich habe ja erst angefangen...», sagt der Brasilianer und lacht. Seit eineinhalb Jahren erst ist er Profifussballer, sein Debüt in der Super League gibt der zweifache Familienvater vor sieben Wochen beim 1:0 gegen Luzern.

In der Zeit von Fussball-Akademien und Karriereplanern, von durchgestylten Kicker-Instagram-Profilen und glattgebügelten Interview-Antworten ist die Laufbahn von Mychell so wohltuend anders wie er selbst.

Der «kleine Johnny Leoni»

Er ist zehn Jahre alt, als er mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder von Recife nach Zürich kommt. Der talentierte Bub, der in Brasilien nur auf der Strasse gekickt hat, spielt beim FCZ vor und wird sofort aufgenommen. Noch nicht lang im Klub, springt er in einem Spiel als Goalie ein. Er macht seine Sache so gut, dass sein Trainer ihn nicht mehr rausnimmt. Bald hat das kleine Goalietalent einen Übernamen. «Sie nannten mich den kleinen Johnny Leoni.»

Das Problem dabei: Der FCZ sieht die Zukunft des Buben zwar im Tor, der Bub aber nicht. Mychell, der beim Stadtklub nicht mehr als Feldspieler spielen darf, zieht die Konsequenzen und wechselt mit 13 zum Quartierverein YF Juventus.

Emotional, ungeduldig, konsequent. Über seine ausgeprägten Charakterigenschaften wird Mychell noch zweimal stolpern. Erst als 18-Jähriger bei GC, später mit 21 bei Winterthur.

Bei GC zieht ihn der heutige FCB-Assistenztrainer Carlos Bernegger trotz Toren am Laufmeter für die U18 nicht in die U21 nach. «Er meinte, ich sei noch zu verspielt, im Kopf noch nicht so weit», sagt Mychell. Er selbst sieht es anders, packt wie damals beim FCZ seine Sachen und zieht zum FC Winterthur. «Mittlerweile weiss ich, dass mich Carlos nur testen wollte, ob ich bereit bin, alles zu geben. Aber ich fühlte mich damals zu Unrecht übergangen.»

Job bei Starbucks

In der U21 des FC Winterthur gilt der torgefährliche Mittelstürmer bald als Perspektivspieler für die 1. Mannschaft, er trainiert da regelmässig mit. Doch er sieht sich wohl näher an der Challenge League als die Klubverantwortlichen. Als er im Sommer 2010 nicht wie andere Nachwuchsspieler ins Trainingslager mitdarf, lupft es dem Heisssporn den Deckel. «Ich hätte in meinen Augen unbedingt dabei sein sollen. Als ich nicht mitdurfte wusste ich: Jetzt muss ich weg von Winterthur, sonst explodiere ich noch.»

Im Nachhinein sei sein überstürzter Abgang nicht wirklich intelligent gewesen. «Aber ich war damals so in meinem Stolz verletzt, dass ich in diesem Moment meinen Traum vom Profifussball endgültig begraben habe.»

Mychell macht die Autoprüfung und sucht sich einen Job. Dank seiner Mutter kriegt er eine Stelle im Starbucks am Zürcher Bellevue. Der 21-Jährige macht und verkauft Kaffee um über die Runden zu kommen. «Jetzt darf ich es ja sagen: Ich mag überhaupt keinen Kaffee, aber damals musste ich immer probieren», sagt er, lacht und bestellt sich beim Fotoshooting im Starbucks am Genfer Quai des Bergues ein stilles Wasser.

Monate später wechselt er den Beruf. Mychell wird Kleiderverkäufer im Zürcher Seefeld. Ein Job wie auf seinen Leib geschneidert. «Ich war schon immer modebegeistert», sagt der Brasilianer. «Mein Stil? Schlicht und elegant...»

Er sei ein erfolgreicher Verkäufer gewesen, behauptet er. «Ich hatte einen gewissen Charme und habe immer gelächelt. Der Job hat mir sehr gut gefallen.»

Während er Kleider verkauft, starten viele ehemalige Kumpels wie Toko oder Steven Zuber bei GC durch, wechseln nach England oder zum ZSKA Moskau. Und weil viele seiner ehemaligen Teamkollegen bei ihm einkaufen, findet er den Weg zurück auf den Fussballplatz. «Sie überzeugten mich, wieder zu YF zurückzukommen.»

Er schraubt, sehr zum Bedauern seines Chefs, sein Pensum ab Sommer 2011 im Kleiderladen herunter, um neben dem KV wieder Fussball zu spielen. Mychell stürmt für YF, steigt mit dem Quartierverein gar in die Promotion League auf.

Im Januar 2016 wirbt ihn der ambitionierte Liga-Konkurrent Rapperswil-Jona ab. Den Klub am Obersee schiesst er mit 22 Treffern quasi im Alleingang in die Challenge League. Nun fühlt er sich erstmals wie ein Fussballer und lebt erstmals auch wie einer. «Als ich merkte, dass es noch nicht zu spät ist, um etwas zu erreichen, habe ich Vollgas gegeben. Ich ging ab sofort früher ins Bett und bin pünktlich ins Training gekommen.»

«Profileben – mega Luxus»

Der Lebenswandel wird belohnt. Im Januar 2018 unterschreibt er, mittlerweile 28-jährig, bei Servette seinen ersten Profivertrag. «Bei der Unterschrift dachte ich: einfach nur genial. Ab jetzt muss ich nach dem Aufstehen an nichts anderes als an Fussball mehr denken.»

Auch wenn er noch auf sein erstes Tor in der Super League wartet und bisher mehrheitlich als Joker zum Einsatz kommt, bleibt Mychell entspannt und geduldig. Er hat aus seinen Fehlern gelernt und geniesst das Profileben in vollen Zügen. «Auch wenn Fussballer auf einiges verzichten müssen, so ein Leben ist mega Luxus. Ich weiss, wovon ich rede.» Und noch einen Vorteil habe seine Laufbahn, sagt er. «Ich weiss, was mich erwartet, wenn mal mit Fussball Schluss sein sollte. Ich habe es ja schon mal erlebt.»

Gut möglich, dass er dann wieder ins Modeusiness wechselt. Mychell designt mit einem guten Kumpel Kleidungsstücke. «Angelo Jakob» heisst ihr Label. Im Moment arbeitet er an einem Schuh, die Sohle sei schon fertig. «Designen, ein Label haben – das ist auch ein Traum von mir. Und ich habe ja bewiesen, dass es nie zu spät ist, seinen Traum zu leben.»

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