Foto: Urs Lindt/freshfocus

2016 wollte er aufhören
Der verrückte Aufstieg von Servettes Mann der Stunde

Die Geschichte von Servette-Star Varol Tasar verblüfft: Vom betrogenen und frustrierten Regio-Kicker zum aufblühenden und strahlenden Super-League-Helden in weniger als vier Jahren.
Publiziert: 09.11.2019 um 16:24 Uhr
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Aktualisiert: 15.06.2023 um 00:15 Uhr
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Skorer der Stunde: Flügelflitzer Tasar traf für Servette in den letzten fünf Spielen vier Mal.
Foto: Urs Lindt/freshfocus
Dario Dietsche

Servettes Varol Tasar (23) strahlt über beide Ohren. «Es ist ein einzigartiges Gefühl, meinen ersten Doppelpack in der Super League geschafft zu haben», sagt der Flügelflitzer nach dem 3:0-Erfolg gegen YB. Danach verschwindet der Mann der Stunde bei den Genfern (4 Tore in letzten 5 Spielen) in der Kabine, wo er lautstark gefeiert wird.

«Wer hat für uns gegen den Meister getroffen? Varol?», brüllt Assistenzcoach Bojan Dimic in die Runde. Worauf das ganze Team «Tasar!» schreit – und das gut und gerne 20 Mal. Überwältigende Gänsehaut-Stimmung. «Das sind alles ‹geili Sieche›», so der rasch bei Servette integrierte Sommer-Neuzugang vom Challenge-Ligisten Aarau.

«Schnauze voll»

Ob er mit einem solchen Bombeneinstieg (Klub-Topskorer) in der Super League gerechnet habe? «Wüthrich steht so viel ich weiss auch bei vier Toren (stimmt, Anm. der Red.)», schmunzelt der bodenständige Tasar. «Klar habe ich mir etwas vorgenommen, wie immer». Aber derzeit habe er vor allem einfach eine «Riesenfreude» am Fussball.

Vor nicht allzu langer Zeit war dem nicht so. Im Gegenteil: Anfang 2016 hatte Tasar «die Schnauze voll» und «wollte aufhören». Was war passiert? Im Alter von 19 Jahren liess sich das damalige Old-Boys-Talent von einem dubiosen Spielerberater in die Türkei lotsen. Einen ruhmreichen und lukrativen Profieinstieg versprach man ihm beim Drittligisten Aydinspor. Und das dazu noch im Heimatland seiner Eltern, wo die meisten seiner Verwandten leben.

Ein vermeintlicher Traum, der sich rasch als Alptraum entpuppte: Ausser einem Handgeld für die Vertragsunterschrift sah Tasar keinen Rappen des vereinbarten Jahresgehalts von 60'000 Franken. Vom Klub als «Superstar» angekündigt, spielte er keine Minute für Aydinspor. Als er völlig frustriert seinen Vertrag auflösen wollte, forderte der Präsident erst 100'000 Franken «Entschädigung». Erst der Sportchef zeigte Erbarmen und liess den verzweifelten Tasar ziehen. Oder besser gesagt: fliehen.

Probetraining bei Regionalverein

«Daheim angekommen, verkroch ich mich erst mal zwei Wochen lang in meinem Zimmer», so Tasar rückblickend. Der Traum vom Profi, für den Tasar unter anderem auf eine Ausbildung verzichtete, schien geplatzt. «Ich kenne viele solche Fälle», sagt Tasar nachdenklich. «Die meisten kommen mit derartigen Demütigungen nicht klar und hören auf». Nicht so Tasar. Er bekam im Januar 2016 völlig unverhofft eine zweite Chance.

Mehr aus Langeweile als aus Überzeugung folgte er damals dem Rat eines Kumpels und ging zu einem Probetraining beim Regionalverein FC Klingnau (2. Liga). Dort avancierte Tasar noch im gleichen Jahr als Siegtorschütze zum Helden des Aargauer Cupfinals. Eine Art Wendepunkt: Tasar kickte wieder aus Leidenschaft, wechselte zum Team Aargau (U21 des FC Aarau), bei dem er auf Anhieb Torschützenkönig wurde. Nach nur einer Saison mit der Reserve landete er in der ersten Mannschaft des FC Aarau, wo er sich während zwei Spielzeiten als Leistungsträger etablierte. Mehrere Super-League-Teams bekundeten im letzten Jahr Interesse, Tasar entschied sich für den Aufsteiger Servette.

Geldsorgen verunmöglichen FCB-Wechsel

«Sie machten mir das beste Angebot. Auch finanziell, daraus mache ich kein Geheimnis», sagt Tasar. Er verdiene nun am besten in der Familie und könne endlich seinen Eltern helfen. Diese seien immer zu 100 Prozent hinter seinem Traum vom Fussballprofi gestanden, trotz bescheidener Mittel: «Finanziell ging es uns nie gut», so der in Waldshut – einem kleinen Städtchen in Deutschland, rund eine Autostunde von Basel entfernt – aufgewachsene Tasar.

Geldsorgen verunmöglichten einst auch einen Wechsel zum FC Basel. Mit neun Jahren ging Tasar zu einem Probetraining: «Sie wollten mich sofort holen, doch mein Vater konnte den Jahresbeitrag unmöglich bezahlen. 1500 Franken, das war ein ganzer Monatslohn». So blieb Tasar vorerst beim Dorfklub Laufenburg und wechselte später zu den Old Boys Basel, welche die 700 Franken Jahresbeitrag übernahmen.

«Es war schon bitter, nicht beim grossen FCB auflaufen zu können», so Tasar. Doch er habe stets gewusst, dass er gut genug für eine Profi-Karriere sei. Und, dass es im Fussball extrem schnell gehen kann: «In zwei Jahren könnte ich für die Bayern spielen – oder wieder bei Klingnau.» Für letzteren Fall will Tasar mit einer Ausbildung vorsorgen. Welche? «Keine Ahnung. Darüber mache ich mir derzeit keine Gedanken.»

Verständlich. Bei seinem aktuellem Lauf stehen die Zeichen eher auf Bundesliga, seiner Lieblingsliga. Ein Angebot liege noch keines vor. «Dafür muss ich schon noch ein paar Tore mehr machen», sagt Tasar mit einem Lachen, das umso herzlicher ist, wenn man seine Geschichte kennt.

Credit Suisse Super League 24/25
Mannschaft
SP
TD
PT
1
FC Zürich
FC Zürich
14
7
26
2
FC Basel
FC Basel
14
20
25
3
FC Lugano
FC Lugano
14
6
25
4
Servette FC
Servette FC
14
2
25
5
FC Luzern
FC Luzern
14
4
22
6
FC St. Gallen
FC St. Gallen
14
6
20
7
FC Lausanne-Sport
FC Lausanne-Sport
14
2
20
8
FC Sion
FC Sion
14
0
17
9
BSC Young Boys
BSC Young Boys
14
-5
16
10
Yverdon Sport FC
Yverdon Sport FC
14
-10
15
11
FC Winterthur
FC Winterthur
14
-21
11
12
Grasshopper Club Zürich
Grasshopper Club Zürich
14
-11
9
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