Es ist der 15. Juni 2002, als Oliver Neuville in der deutschen Fussball-Geschichte eine Hauptrolle spielt. Im WM-Achtelfinal gegen Paraguay macht er in der 88. Minute das 1:0. Dieser Sieg ebnet Deutschland den Weg in den Final.
Neuville spielt im Endspiel gegen Brasilien (0:2) durch, trifft den Pfosten: «Schade, aber das Finalerlebnis kann mir keiner mehr nehmen. Die Atmosphäre, die tausenden Fans am Strassenrand auf dem Weg zum Stadion, einmalig», sagt er heute. Der inzwischen 45-Jährige ist der erste Schweizer in einem WM-Final. Am Sonntag ist der Kroate Ivan Rakitic der zweite in einem Endspiel.
Dabei hätte Neuville für unsere Nati spielen sollen. Er sagt zu BLICK: «Als ich 1996 in Teneriffa spielte, meldete sich der Schweizerische Fussball-Verband bei mir. Ob ich mir vorstellen könnte, für die Nati zu spielen. Ich sagte ja, wollte für die Schweiz spielen – und wartete auf das weitere Vorgehen. Nur: Dann meldete sich einfach niemand mehr bei mir...»
Ab diesem Zeitpunkt ist die Nati für ihn abgeschlossen. Er hat zwei weitere Länder zur Auswahl: Italien, das Herkunftsland seiner Mama. Oder Deutschland, die Nationalität seines Vaters.
Neuville spielt für die DFB-Elf, macht 1998 sein erstes Länderspiel. Dabei beginnt seine Geschichte im Tessin. SonntagsBlick besucht ihn 2005 in seiner Heimat. Auf einer Wiese sticht er in Gambarogno mit einer Mistgabel ins Heu. «Hier», erzählt er, «war früher mein erster Fussballplatz.» Rund um die Wiese ragen Berge in die Höhe. 200 Meter muss Neuville gehen, dann betritt er eine Schule, geht in eine Kabine. «In dieser Ecke sass ich jeweils als Jugendspieler», sagt er und setzt sich.
Inzwischen hat der FC Gambarogno-Contone einen neuen Platz. Im Klubhaus des Zweitligisten hängt damals ein riesiges Foto von Neuville. Als Silvano Sartori ihn sieht, gibt’s eine herzliche Umarmung – er war Neuvilles erster Trainer. Als Sechsjähriger kommt Neuville 1979 zu Gambarogno, spielte zwölf Jahre lang da.
Sartori stellt einen Fernseher an, schiebt eine Videokassette ein, sagt: «Das ist ein Film von 1983, als Oli zehn war.» Neuville gerührt: «Das bin ich? Es ist wunderschön, das zu sehen.»
Sartori erzählt: «Er war ein Naturtalent, was er wohl von seinem Vater hatte. Aber der kritisierte ihn immer hart, weil er nichts für die Defensive machte.» Neuville lächelt. Bei Rindsfilet und Pasta erzählt er: «Auch mein Vater war Stürmer, spielte unter anderem für St. Gallen. Und er war drei Jahre lang mein Trainer.»
Papa Jupp zog einst aus Aachen in das Tessin. Und es ist ein Schicksalsschlag für Neuville, als er 1990 an einem Herzschlag stirbt. Mama Carmen (69) – eine Italienerin – wohnt noch heute in Ascona. Neuvilles Sohn Lars-Oliver (20), aus erster Ehe, ebenfalls – er hat gerade das Militär in Liestal BL hinter sich gebracht.
Neuville ist wegen ihnen manchmal zu Besuch, wohnt mit seiner zweiten Ehefrau und den zwei weiteren Söhnen Alessandro (8) und Leandro (1) in Gladbach, ist Co-Trainer der U19 bei Borussia.
Seit 1992 spielt er nicht mehr im Tessin. Via NLB-Klub Locarno, wo sie ihn liebevoll «Piccolino» (den Kleinen) nennen, geht er zu Servette. Weitere Stationen: Teneriffa, Rostock, Leverkusen, Gladbach – bevor er bei Arminia Bielefeld seine Karriere 2011 beendet.
69 Länderspiele macht er für Deutschland. «Ich glaube, es war die richtige Entscheidung», sagt er schmunzelnd. Auch die WM 2006 im eigenen Land ist ein emotionales Highlight für ihn. Erst entscheidet er das Vorrundenspiel gegen Polen mit einem Tor in der Nachspielzeit, dann versenkt er im Viertelfinal gegen Argentinien den ersten Ball beim Penaltyschiessen.
Neuville: «Wenn jetzt erzählt wird, die Engländer hätten Penaltyschiessen geübt, dann halte ich das für Quatsch. Diesen Druck, wenn du vom Mittelkreis zum Penalypunkt gehen musst, kannst du nicht trainieren.»
Ivan Rakitic hat bereits zwei Penaltyschiessen gegen Dänemark und Russland gewonnen und jeweils den letzten Elfer reingemacht. Er kann es in Moskau gegen Frankreich besser machen als Neuville: Und als erster Schweizer Weltmeister werden.