So heftig waren die Ausschreitungen in Istanbul
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Legendäre WM-Barrage:So heftig waren die Ausschreitungen in Istanbul

«Natürlich habe ich eine Strafe verdient»
Huggel spricht über die Schande von Istanbul

16. November 2005: Statt Champagner spritzt für die Schweizer bei der Schande von Istanbul das Blut. Opfer und Rächer Benjamin Huggel (43) erinnert sich.
Publiziert: 16.11.2020 um 11:31 Uhr
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Aktualisiert: 16.11.2020 um 13:38 Uhr
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Die Schweiz qualifizierte sich 2005 für die WM – und schmiss die Türkei raus.
Foto: Keystone
Max Kern, Marcel Perren und Andreas Böni

Heute vor 15 Jahren im Sükrü-Saraçoglu-Stadion im asiatischen Teil von Istanbul. Keiner der Augenzeugen wird diese Nacht je vergessen. Der Schweizer Verteidiger Stéphane Grichting, im Spielertunnel von türkischen Spielern (und Funktionären?) in den Unterleib getreten, spürt die Folgen immer noch: Beim Urinieren und beim Sex.

22.12 Uhr Ortszeit in Istanbul. 98 Minuten sind im Barrage-Spiel gegen die Türkei vorbei, Ref De Bleeckere pfeift ab. Die Schweiz qualifiziert sich nach dem 2:0 von Bern mit einer 2:4-Niederlage dank der Auswärtstor-Regel für die WM 2006. Feiern? Fehlanzeige! Der türkische Nati-Coach Fatih Terim hetzt seine Ersatzspieler in die Schlacht. Er sinnt nach Rache! Von den Rängen hagelts Münzen, Feuerzeuge, Billig-Uhren.

Behrami am Kopf getroffen

Grichting: «Ich sass auf der Ersatzbank. Die war auf der gegenüberliegenden Seite der Garderoben. Der Weg bis zum Spielertunnel war lang.» Valon Behrami wird von Gegenständen am Kopf getroffen. Auf seiner Flucht zur Kabine stellt ihm der türkische Physiotherapeut Mehmet Özdilek ein Bein. Benjamin Huggel rächt seinen Kumpel. Er tritt Özdilek in den Hintern.

Jetzt gehts richtig los. Özdilek verfolgt Huggel und versetzt dem Basler einen Kung-Fu-Tritt in den Rücken. Huggels Kumpel Marco Streller wird vom Türken Alpay getreten. Huggel packt sich Alpay. Im Spielertunnel kommts zur Massenschlägerei. Die türkischen Sicherheitskräfte und Polizisten mischen sich ein.

«Habe mich für meinen Teamkollegen gerächt»

Huggel, 15 Jahre danach TV-Experte bei SRF, sagt gestern: «Ja, diese unschöne Geschichte gehört halt eben auch zu meinem Leben. Obwohl wir vor- und während des Spiels aufs Übelste provoziert wurden, konnten wir uns gegen die Türkei für die WM qualifizieren. Nach dem Schlusspfiff musste ich auf dem Weg in die Garderobe mit ansehen, wie der türkische Assistenztrainer Valon Behrami den Haken gestellt hat.

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Da bin ich halt dann auch explodiert, und habe mich mit einem Fusstritt für meinen Teamkollegen gerächt. Weil mich die Fifa deshalb für sechs Spiele gesperrt hat, habe ich die Weltmeisterschaft in Deutschland verpasst. Ausgerechnet die WM, von der meine Teamkollegen immer gesagt haben, dass es das geilste Turnier gewesen sei.»

Bebbi Huggel ist Profi von Eintracht Frankfurt, als im Sommer 2006 in Deutschland das Sommermärchen läuft. Seine Sperre wird nachträglich auf vier Spiele reduziert. Da die Schweiz an der WM bis in den Achtelfinal vorstösst, ist der defensive Mittelfeldspieler an der Euro 2008 daheim in Basel wieder spielberechtigt.

War die Strafe zu hart?

Fühlt sich der 41-fache Nati-Spieler wegen der langen Sperre von der Fifa auch heute noch ungerecht behandelt?

«Natürlich habe ich eine Strafe verdient, weil ich mich zu heftig gewehrt habe. Aber wenn man in Betracht zieht, was sich meine Teamkollegen und ich alles gefallen lassen mussten, bis ich ausgerastet bin, ist die Strafe trotzdem zu hoch ausgefallen. Die Mutter meines besten Jugendfreundes hat nach meiner Aktion gesagt: ,Typisch, so war Beni schon als Kind. Wenn er sich ungerecht behandelt fühlt, dann wehrt er sich.’»

Schon vor fünf Jahren, als sein Sohn 10-jährig ist, macht Huggel zuhause reinen Tisch. «Ich sagte meinem älteren Sohn, das gehöre zu meiner Geschichte, und es sei nicht gut gewesen. Ich wollte nicht, dass er von jemand anderem darauf angesprochen wird und dann erschrickt.»

Unfreiwillige Versöhnung

Übrigens: Zwischen dem türkischen Treter Alpay und Streller kommts schon bald nach der Schande von Istanbul zur (unausweichlichen) Versöhnung: Im Januar 2006 wird der Nati-Stürmer vom VfB Stuttgart an den 1. FC Köln ausgeliehen, wo auch Alpay spielt. Alpay ist in der Türkei seit Juli 2018 Abgeordneter der Grossen Nationalversammlung für die rechts-populistische Partei AKP (Vorsitzender: Recip Erdogan).

Streller gestern zur Schande von Istanbul: «Es war eine schlimme Erfahrung. Aber es hat die Mannschaft auch mega zusammengeschweisst.»

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