Nati-Stars erinnern sich
Das war die Schand-Nacht von Istanbul

Im Sükrü-Saraçoglu-Stadion von Istanbul erlebt die Schweizer Nati am 16. November 2005 einen «Höllenritt». Bei der Massenschlägerei im Spielertunnel erwischts Stéphane Grichting am schlimmsten: Der Walliser spürt den Tritt in die Genitalien bis zum heutigen Tag.
Publiziert: 16.11.2015 um 12:10 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 05:18 Uhr
So heftig waren die Ausschreitungen in Istanbul
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Legendäre WM-Barrage:So heftig waren die Ausschreitungen in Istanbul
Von Max Kern

«Sperrt diese Prügel-Türken!», titelt BLICK. Und schreibt: «Wurfgeschosse! Tritte! Schläge! Schweizer Spieler im Spital!» Auf dem Titelbild sieht man die Nati-Spieler Johann Vogel, Alex Frei und Tranquillo Barnetta, die sich in gebeugter Haltung mit angsterfüllten Blicken Richtung Spielertunnel zu retten versuchen. Nati-Coach Köbi Kuhn, offensichtlich von einem Gegenstand getroffen, tastet in gebückter Haltung seinen Kopf nach Blut ab.

Die Schlagzeile im Sportteil am 17. November 2005 lautet: «Höllenritt in den WM-Himmel!» Es ist der Tag nach der Schand-Nacht von Istanbul. Prügel-Opfer Stéphane Grichting (36) erinnert sich auch zehn Jahre später schmerzlich daran. Beim Pinkeln. Und beim Liebemachen. Grichting, der vor fünf Monaten bei GC seine Profi-Karriere beendet hat, zu BLICK: «Ich habe oft Schmerzen. Diesen Tag werde ich nie mehr vergessen.»

Der verhängnisvolle 16. November vor zehn Jahren. Mit Polizeischutz werden wir Schweizer Journalisten ins Sükrü-Saraçoglu-Stadion im asiatischen Stadtteil von Istanbul geleitet. Einige werden auf dem Weg von Farbbeuteln getroffen.

Schweizer Fans werden von türkischen Sicherheitsleuten mit Farbkübeln übergossen und mit Ablaufrinnen beworfen. Vom Schweizer Psalm hören wir nichts, zu gellend sind die Pfiffe der türkischen Fans. Ein Rache-Akt, weil beim Hinspiel vier Tage zuvor in Bern beim Abspielen der türkischen Hymne vereinzelte Pfiffe zu hören waren.

22.12 Uhr Ortszeit im Sükrü-Saraçoglu. 98 Minuten sind vorbei, der belgische Schiedsrichter Frank De Bleeckere pfeift endlich ab. Es ist vollbracht! Die Schweiz qualifiziert sich nach dem 2:0 von Bern mit einer 2:4-Niederlage dank der Auswärtstor-Regel für die WM 2006.

Feiern? Fehlanzeige! Denn der türkische Nati-Coach Fatih Terim, Übername «Imperatör», hetzt seine Ersatzspieler wild gestikulierend in die Schlacht. Er sinnt auf Rache! Von den Rängen hagelts Münzen, Feuerzeuge und Billig-Uhren.

Grichting: «Ich sass auf der Ersatzbank. Die war auf der gegenüberliegenden Seite der Garderoben. Der Weg bis zum Spielertunnel war lang.» Valon Behrami, beim 2:0-Hinspiel-Sieg neben Philippe Senderos der zweite Torschütze, wird wiederholt von Gegenständen am Kopf getroffen. Er hält sich schützend den rechten Arm vors Gesicht. Auf seiner Flucht Richtung Kabine wird er von einem türkischen Betreuer unsanft gebremst. Physiotherapeut Mehmet Özdilek stellt dem Tessiner ein Bein. Der ebenfalls flüchtende Benjamin Huggel sieht die Szene und rächt seinen Kumpel. Er trifft Özdilek mit einem gezielten Tritt in den Hintern.

Jetzt gehts richtig los. Özdilek verfolgt Huggel, erreicht ihn kurz vor dem Spielertunnel und versetzt dem Basler einen Kung-Fu-Tritt in den Rücken. Gleich daneben wird Huggels Kumpel Marco Streller vom Türken Alpay getreten. Huggel packt sich Alpay. Im Spielertunnel kommts zu einer Massenschlägerei. Auch die türkischen Sicherheitskräfte und Polizisten mischen sich ein.

Auch Goalie-Trainer Erich Burgener ist mittendrin. Er will für Gerechtigkeit sorgen, weil der türkische Goalie Volkan Nati-Coach Köbi Kuhn attackiert hat. Der Oberwalliser: «Plötzlich schlugen Ordner und Security-Leute auf mich ein. Ich dachte, meine Hüftprothese sei entzwei.»

Streller: «Alpay schlug wie im Blutrausch zu.»

Ein Kamera-Mann der ARD, der die Jagd-Szenen filmen will, wird niedergeschlagen. Philipp Degen unterbricht vor der Garderobe ein Interview mit dem ZDF und eilt Huggel zu Hilfe.

Der polnische Fifa-Beobachter Michal Listkiewicz: «Später erfuhr ich von den Referees und einem anderen Fifa-Beauftragten, dass die Türe der Schiedsrichterkabine durch Terim und Volkan eingetreten wurde.»

Grichting: «Ich kam als Letzter im Tunnel an. Da war die Sache schon voll am Laufen. Ich versuchte, meine Kollegen Richtung Garderobe zu schieben. Da passierte es. Ich bekam von hinten einen Schlag zwischen die Beine. Es tat höllisch weh. Ich blutete.» Huggel erinnert sich: «Auch unter der Dusche verlor Stéph Blut.» Grichting wird in der Garderobe ein Katheter gesetzt. Er wird ins Spital gefahren. Dort erhält er die Diagnose Harn­leiter-Riss.Immer noch mit Katheter zwischen den Beinen kommt Grichting in den frühen Morgenstunden im Team-Hotel an. Im ersten Untergeschoss sitzen Zuberbühler, Vogel, Cabanas & Co. an der Bar. Feier-Stimmung kommt nie auf.

Vier Tage vor Istanbul. Gift und Galle wird schon unmittelbar nach dem 2:0-Sieg im Stade de Suisse gespuckt. Streller berichtet, dass Türken-Coach Terim gegenüber Alex Frei handgreiflich geworden ist. Frei sagt am Tag danach: «Schuelbuebä-Züügs! Wir lassen uns das sicher nicht gefallen.» Und auf die Frage, ob er schon Rache geschworen hat, antwortet der Top-Skorer: «Wir machen etwas, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Aber andererseits ist es ja auch nicht schlecht, wenn ein bisschen Leben in der Bude ist.» Das mit dem Leben in der türkischen Bude hat sich Frei freilich anders vorgestellt.

Nati-Sekretär Philipp Ebneter bestätigt Tumulte im Berner Kabinengang: «Als Senderos reinkam, hat ihm ein türkischer Spieler das Bein gestellt.» Philipp Degen, Zeuge der Tumult-Szenen: «Ich sprach mit Altintop, als der Trainer der Türken auf Alex losging. Terim machte danach in der Kabine einen Riesen-Krach. Anscheinend sind die so. Eine Katastrophe. Zwei Türken sagten zu mir: Kommt nur nach Istanbul!» Die Drohung wird wahr gemacht.

«Pfui!», titelt BLICK am 15. November auf Seite 1. «Hass-Empfang für die Nati +++ Schikanen am Zoll +++ Spieler als Hurensöhne beschimpft +++ Training unmöglich. Schämt euch, ihr Türken!»

Was ist passiert? Um 14.46 Uhr landet der Swiss Airbus A330 auf dem Flughafen Istanbul-Atatürk. Die Provokationen der Türken gehen los. «Ich bin seit 1967 dabei», sagt Nati-Physio Fredy Häner damals, «aber so etwas habe ich noch nie erlebt, nicht einmal hinter dem Eisernen Vorhang.» Statt das Gepäck der Schweizer auszuladen, stehen die Flughafen-Arbeiter im Fingerdock Frei & Co. Spalier, schreien «Türkiye! Türkiye!» Sie halten Transparente hoch. «Welcome to Hell», willkommen in der Hölle. Der blanke Hass.

Bei der Passkontrolle sagt Nati-Coach Köbi Kuhn bald: «Das ist alles von oben gesteuert. Für ein paar Kröten findet man immer Leute, die Radau machen.» Der Name von Frei, der sich im Hinspiel mit Imperatör Terim gezofft hat, steht auf einer schwarzen Liste. 31 (!) Minuten lang blättert der Zollbeamte in Freis Pass. Beim Gepäckband zischt ein Türke Mittelfeldspieler Ricci Cabanas an: «Ihr werdet noch euer blaues Wunder erleben. Aber erst nach dem Spiel.»

121 Minuten nach der Landung treten die Spieler in die Ankunftshalle, erwartet von gegen 400 hasserfüllten türkischen Fans. «Fuck you, Switzerland», steht auf einem Transparent. «Hurren Son Frei», «Ich ficke Eure Mutter», «Das ist Istanbul, da kommt ihr nicht mehr raus.»

Die Zeitung «Bugün» befeuert die Stimmung: «Wir werden ausserhalb des Stadions alles dafür tun, um ihre Nerven zu strapazieren. Wir rufen alle auf, ihre Arbeit zu machen. Vom Flughafen bis ins Hotel.»

2:15 Stunden nach der Landung setzt sich der Bus mit der Nati endlich Richtung Fünf-Sterne-Hotel Kempinski in Bewegung. Auf dem Weg zum Bosporus fliegen Eier, Tomaten und auch ein paar Steine an die Scheiben des Cars.

Das Training wird aus Sicherheitsgründen abgesagt. Ein kleiner Vorgeschmack auf das, was in der Schand-Nacht von Istanbul noch alles passieren soll.

Harte Strafen für die Türken

Sechs Tage nach den Tumulten im Sükrü-Saraçoglu-Stadion gibt Brandstifter Mehmet Özdilek, der mit seinem Beinstellen gegen Behrami die Massenschlägerei ausgelöst hat, auf Druck des türkischen Verbandes seinen Rücktritt.

Ende November werden am Fifa-Hauptsitz in Zürich 22 Direktbeteiligte verhört. Am 11. Januar 2006 wird Prügel-Opfer Marco Streller vom VfB Stuttgart an den abstiegsgefährdeten 1. FC Köln ausgeliehen – und trifft dort ausgerechnet auf Schläger Alpay. Im Trainingslager in Portugal schliessen die beiden (auch auf sanften Druck von Trainer Hanspeter Latour) Frieden. Alpay: «Es war ein Blackout. Ein Fehler, zu dem ich stehe. Ich weiss, dass ich dafür bestraft werde, das akzeptiere ich auch. An dieser Stelle möchte ich Marco nochmals sagen, dass es nicht persönlich gegen ihn war.» Streller: «Das weiss ich. Ich hatte Zeit, Alpi persönlich kennen zu lernen. Er ist freundlich und offen.»

Am 19. Januar kommt Aggressor Fatih Terim seiner Entlassung zuvor. Er tritt als türkischer Nati-Coach zurück. 84 Tage nach der Schand-Nacht fällt die Fifa ihre Urteile. Der Türkei werden 6 Geisterspiele auf neutralem Terrain aufgebrummt. Die Schläger Alpay und Emre kassieren je 6 Spielsperren. Physio Özdilek wird für ein Jahr gesperrt.

Auch Huggel bekommt erstinstanzlich 6 Spielsperren und 15'000 Fr. Busse. Er verpasst damit die WM in Deutschland. Ernst Lämmli, der Nati-Delegierte: «Mit dem Urteil für Huggel komme ich nicht klar. Damit Huggel an der Euro 2008 dabei sein könnte, müssten wir in Deutschland Weltmeister werden. Das ist brutal. Es wurde nicht mit gleichen Ellen gemessen.»

Noch während der WM 2006 wird Huggels Strafe auf 4 Pflichtspiele reduziert. Er ist an der Euro im eigenen Land dabei. Schlusswort Grichting: «Beni und ich sind die grossen Verlierer.»

Geblieben sind die Schmerzen. Grichting: «Beim Pinkeln oder beim Liebemachen habe ich oft noch Schmerzen. Ich musste lernen, damit umzugehen.»

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