Mit Nati-Coach Yakin auf Mallorca
«Lohn war nicht matchentscheidend»

Nationaltrainer Murat Yakin über die EM, Goalie-Gedankenspiele vor dem entscheidenden Penaltyschiessen, den Hype um ihn als Stilikone und über den neuen Vertrag.
Publiziert: 18.07.2024 um 00:02 Uhr
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Aktualisiert: 20.07.2024 um 08:36 Uhr
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In den Ferien: Nati-Trainer Murat Yakin geniesst ein paar freie Tage.
Foto: BENJAMIN SOLAND

Die Sonne strahlt hell, das Meer leuchtet blau und der leichte Wind sorgt dafür, dass sich die Luft trotz 30 Grad angenehm frisch anfühlt: Blick trifft Murat Yakin (49) auf Mallorca, wo der Nati-Trainer nach der aufregenden EM mit dem dramatischen Penalty-Out im Viertelfinal gegen England die Batterien wieder auflädt. Eben erst wurde die Vertragsverlängerung um zwei Jahre mit Option auf zwei weitere Saisons verkündet. 

Bevor Yakin aber ein paar entspannte Tage mit seiner Frau Anja und den beiden Töchtern geniesst, spricht er im grossen Interview noch einmal über die EM, die ihm über die Landesgrenzen hinaus einen Popularitätsschub verliehen hat, über die Verhandlungen mit dem Verband und über die Zukunft der Nati. 

Blick: Wie oft dachten Sie noch an den EM-Viertelfinal gegen England zurück?
Murat Yakin: Daran, dass wir eine Chance verpasst haben?

Ja.
Bis zum Tag des Finalspiels nur noch einmal. Man hat im Fussball eine Chance, eine Gelegenheit zu einem Wiederholungsspiel bekommt man nicht. Das gehört zum Spiel. Darum ist es eine verpasste Chance mit dem Wissen, dass wir auch die Engländer hätten schlagen können.

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«Als der Final lief, hat es noch wehgetan»
Murat Yakin
»

Wie fühlt sich das an?
Ich bin mir nicht sicher, ob es am Schluss Genugtuung oder Frust ist. Es ist eine Mischung von beidem. Sicher verspüren wir eine Zufriedenheit darüber, dass wir tollen Fussball gezeigt haben, dass wir viele in der Schweiz glücklich machen konnten. Aber am Schluss ... Es tut weh, weil du weisst, dass mehr drin war. Das ist das, was hängenbleibt. Als der Final lief, hat es noch wehgetan. Aber wir hätten die Chance beim Schopf packen müssen. Und wenn der Schlusspfiff da ist, dann ist es vorbei. Mit etwas Distanz muss man irgendwo auch dankbar sein für das, was wir erleben durften.

Gibt es Momente oder Dinge an der EM, die Sie anders machen würden?
Nein.

Ein Thema, das in der Schweiz ab und an debattiert wurde: Gregor Kobel fürs Penaltyschiessen einzuwechseln. War das jemals ein Gedanke?
Sicher. In Gedanken haben wir das durchgespielt, alle Varianten. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, wir hätten nicht darüber nachgedacht.

Wieso haben Sie es nicht gemacht? War das ein Kopfentscheid oder ein Bauchentscheid?
Das ist aus Respekt so passiert. Aus Respekt gegenüber Yann Sommer, der als Nummer 1 im Tor stand. Er hatte die Gelegenheit verdient, dieses Elfmeterschiessen zu bestreiten.

Würden Sie im Nachhinein Xherdan Shaqiri früher einwechseln?
Wie viel früher?

Vielleicht bereits nach Ablauf der 90 Minuten. Er hat ja durchaus etwas bewegt in der Verlängerung.
Nein. Ich glaube, das war der richtige Moment. Er hätte ja fast die Entscheidung gebracht.

Nehmen Sie uns mit: Wie war es in der Garderobe nach dem Spiel?
Zuerst ganz viel Leere. Dann eine Mischung aus Zufriedenheit und Enttäuschung. Aber das gehört zu einem Turnier. Wenn man sich die EM anschaut – die Einzigen, die glücklich nach Hause gehen, sind die Spanier. Weil sie den Titel geholt haben. Alle anderen gehen mindestens einmal als Verlierer vom Platz und nach Hause. Irgendwann kommt der Moment. Man will es zwar nicht wahrhaben, aber es ist die Realität. Ich habe mich am Ende bei den Spielern bedankt für alles, was sie in den Wochen davor geleistet hatten. Am Abend im Hotel war die Stimmung wieder positiver.

Wie unterscheidet sich der Schmerz, so knapp auszuscheiden wie gegen England, vom WM-Out gegen Portugal zwei Jahre vorher, wo es mit 1:6 überhaupt nicht knapp war?
Gegen Portugal mussten wir akzeptieren, dass nicht mehr möglich war (eine Reihe von Spielern war in den Tagen vor dem Spiel krank, manche wurden eingesetzt, andere nicht, d. Red.). Das war am Ende kein wettkampfmässiges Spiel mehr, weil einfach nicht mehr rauszuholen war. Das war eine andere Situation als jetzt gegen England, wo wir genauso mit leeren Händen dastehen. Diesmal halt nach Penaltyschiessen. Aber es ist schwarz oder weiss. Du bist dabei oder nicht. Klar, das schmerzt nach dem England-Spiel. Aber das war gegen Portugal auch so.

«
«Die Nati hat früher nie grosse Gegner dominiert – jetzt schon»
Murat Yakin
»

Manch ein Schweizer Fan hat sich wohl den Final angeschaut und gedacht: «Wir könnten anstelle der Engländer hier gegen die Spanier spielen.»
Ja, das wäre möglich gewesen. Aber am Ende darf man sich auch über die Entwicklung der letzten drei Jahre freuen. Ich bin gekommen, wir haben uns direkt für die WM qualifiziert, obwohl das nicht die Erwartung war. Danach kam die Qualifikation zur EM, wo wir erstmals in der Favoritenrolle waren. Wir haben uns qualifiziert, wenn auch unter schwierigen Umständen. Was die Spielweise anbelangt: Da haben wir zuletzt eine Nati gesehen, die Gegner dominiert hat, auch solche mit grossen Namen. Ich bin jetzt 30 Jahre im Fussballgeschäft, in dieser Zeit war das nie der Fall. Wir haben Fortschritte gemacht, in allen Belangen. Darauf dürfen wir stolz sein.

An der WM 2006 in Deutschland ist die Schweiz auch im Penaltyschiessen ausgeschieden. Da ging es alles andere als harmonisch zu auf der Busfahrt zurück ins Hotel: Der Captain, der keinen Penalty geschossen hatte, ging heftig auf die Spieler los, die verschossen hatten. Hatten Sie zu irgendeinem Zeitpunkt Bedenken, dass es nach der Niederlage gegen England in der Mannschaft rumpeln könnte?
Wir müssen nicht wieder aufrollen, wie es damals war. Aber diesmal war klar, wer die Elfmeterschützen sein würden. Manuel Akanji, der über das ganze Turnier eine Riesenleistung erbracht hat, hat die Verantwortung übernommen. Er kam zu mir und sagte: «Ich schiesse als Erster.» Das verdient zuerst einmal Respekt.

Wann hätte Granit Xhaka geschossen?
Als Elfter.

Also noch nach Goalie Yann Sommer?
Ja. Granit wusste, wenn er schiesst und voll auf den Ball haut, kann es sein, dass der Muskel reisst. Dass er sich schlimmer verletzt.

Vorwürfe an Manuel Akanji …
… gab es aus der Mannschaft null. Zu keinem Moment auch nur im Ansatz.

Das passt zum Bild, das die Nati abgab. Sie ist in Deutschland sehr reif aufgetreten.
Als ich die Mannschaft vor drei Jahren übernommen habe, war das schon eine eingeschworene Einheit. Da waren die Hierarchien klar, da hat man gespürt, dass die Stimmung fantastisch ist. Du musst ihnen eigentlich nur weiterhin Freude und gewisse fussballtaktische Schemen vermitteln. Aber die Basis war schon da. Das war zu meiner Zeit in der Nati ganz anders. Da gab es diesen Röstigraben, das war immer ein Störfaktor.

Waren Sie damals Rösti, Spiegelei oder Speck?
(Lacht) Sagen wir mal so, ich war auch Teil dieses Grabens.

Die Nati hat in den EM-Wochen die Herzen der Fussballnation zurückerobert. Wie stark haben Sie das während des Turniers mitbekommen?
Ich kann nur für mich sprechen. Ich bin ja nicht auf Social Media, aber ich habe ab und zu Bilder vom Fanmarsch gesehen und Bilder von Public Viewings in der Schweiz. Das ist richtig schön gewesen und sehr, sehr eindrücklich. Ein gutes Gefühl. Das Bild hat zudem dem entsprochen, wie die Spieler wahrgenommen werden wollten. Wir haben sie das vor dem Turnier gefragt.

Was ist dabei rausgekommen?
Dass wir als Team auftreten wollen. Dass wir unbekümmert Fussball spielen wollen. Das sind Themen, die immer wieder gekommen sind, das haben wir mit den Eindrücken, die wir im Trainingsalltag mitbekommen haben, einfliessen lassen. Die Atmosphäre war sehr, sehr gut. Gigantisch. Wir haben uns jeweils nicht einfach nur gefreut, dass wir eine Runde weitergekommen sind. Sondern dass das eben auch bedeutete, dass wir noch einmal eine Woche miteinander verbringen würden. Es war schwierig, sich danach wieder zu trennen.

Sie gelten als gelassener Typ. Jetzt aber mal Hand aufs Herz: Wie sehr hat Sie der englische Goalie Jordan Pickford im Penaltyschiessen auf die Palme gebracht?
Schauen Sie, das sind halt Spielereien. Manche brauchen das. Mit dem englischen Gentleman, das ist sicher, hatte das allerdings nichts mehr zu tun.

Wie hätten Sie auf dem Platz reagiert?
Als Spieler hätte ich ihm bei einem Eckball vielleicht schon mal einen Spruch mitgegeben. Aber wir wussten, was auf uns zukommt, unsere Spieler kennen Pickford und wissen, dass er speziell tickt. Das gehört zum Fussball, dass nicht immer alles sauber und regelkonform abläuft.

Hätte der Schiedsrichter da einschreiten müssen?
Ich war am Spielfeldrand zu weit weg, um das beurteilen zu können. Ich weiss auch gar nicht, ob er unsere Spieler so furchtbar stark beeinflusst hat. Ein Penalty ist eine Ausnahmesituation. Was auf dem Weg vom Mittelkreis zum Elfmeterpunkt im Kopf abgeht, das kann nur beurteilen, wer das mal erlebt hat. Zwei Dinge haben gegen uns gesprochen: Dass wir vor den englischen Fans geschossen haben und dass wir erst als Zweite schiessen durften. Beides hat das Los entschieden. Ist halt so.

Was halten Sie vom Vorschlag, dass das Penaltyschiessen bereits vor der Verlängerung durchgeführt wird? Damit will man mehr Action in die Verlängerung bringen.
(Denkt nach). Das finde ich eine coole Idee.

Mit welchen Gefühlen haben Sie den Final geschaut?
Mit einer gesunden Distanz. Ich habe der Chance weniger nachgetrauert.

Was bedeutet es, dass die Spanier Europameister werden?
Das ist gut. Wenn die Engländer mit diesem Fussball und mit all dem Glück im Achtelfinal und gegen uns im Viertelfinal sowie mit dem Last-Minute-Sieg im Halbfinal dann sogar den Titel geholt hätten … die Spanier waren die beste Mannschaft, sie haben den besten Fussball gespielt und jedes einzelne Spiel gewonnen. Hochverdient.

Sie haben in den letzten Wochen mächtig an Popularität gewonnen. Merken Sie das?
Ja. Am Tag, als wir nach Deutschland gereist sind, haben mich vielleicht zwei, drei Leute auf der Strasse angesprochen. Jetzt muss ich schon mehr Zeit mitbringen, wenn ich irgendwo hinwill.

Auch international wurden Sie gehypt. Als Stilikone, mancherorts sogar als Sexsymbol. Was macht das mit Ihnen?
Ach, irgendwann wird es mir dann zu kitschig. (lacht) Wir sind davon etwas überrascht worden, damit hatte bei uns niemand gerechnet. Natürlich schmeichelt mir das, aber man darf so etwas nicht überbewerten.

Eine Zweitkarriere in Hollywood ist keine Option?
(Lacht) Nein, diese Träume habe ich alle schon hinter mir. Das ist doch das Schöne am Fussball: die Emotionen, die der Moment hervorbringt. Gefühle, die man nicht wiederholen kann. Wir sind keine Schauspieler, wir sind Fussballer. Der Fussball gibt uns so viele Eindrücke, Emotionen, die man in keiner Art und Weise zurückzahlen kann.

Statt der Karriere in Hollywood bleiben Sie jetzt Nati-Trainer. Ihr Vertrag wurde verlängert. Wenn Sie sich für die WM qualifizieren, läuft er gar bis 2028. Haben Sie sich keine Gedanken darüber gemacht, auf dem Höhepunkt abzutreten?
Das würden andere Trainer vielleicht machen. Aber was heisst schon Höhepunkt? Wir haben uns etwas aufgebaut, das sieht man jetzt auf dem Platz. Warum soll man etwas ändern, das einem Freude bereitet?

«
«Beim Verhandeln brauchts auch etwas Taktik»
Murat Yakin
»

Wer hat den Vertrag ausgehandelt?
Ich.

Was sind Sie für ein Verhandler?
(Überlegt lange). Ich verhandle so, wie ich Schach spiele. Offen, transparent, man kann sich ja nicht verstecken … Aber es braucht auch etwas Taktik. Die Gegenseite muss nicht im ersten Moment schon wissen, worauf man hinauswill.

Wie lief es 2021, als Sie zum Nachfolger von Vladimir Petkovic wurden?
Damals hat mir der Verband eine Chance gegeben. Robert (Breiter, SFV-Generalsekretär, Anm. d. Red.) hat noch nie so schnell eine Antwort auf eine Mail bekommen wie von mir damals, als ich auf den Vertragsentwurf geantwortet habe.

Haben Sie sich jetzt wieder so schnell geeinigt?
Jetzt musste ich ein bisschen länger warten, weil alle in den Ferien waren. Und der Vertrag war noch nicht aufgesetzt. Aber zugesagt habe ich relativ schnell.

War es ein guter Entscheid, den Vertrag statt im Frühling erst nach der EM zu verlängern?
Ja. Im Frühling war für mich der Zeitpunkt nicht passend. Irgendwie wollte ich diese Challenge, mich zu beweisen.

Nati-Direktor Pierluigi Tami befürchtete, es könnte sehr teuer werden, wenn Sie erst nach der EM verhandeln würden.
Das habe ich bei den Verhandlungen nicht gemerkt (lacht). Nein, es ist alles im vernünftigen Rahmen. Ich bin happy, habe mit keiner anderen Partei verhandelt.

Sie strebten nach Wertschätzung. Aber Vladimir Petkovic verdiente gegen Ende seiner siebenjährigen Amtszeit einige Hunderttausend Franken mehr als Sie. Stört Sie das?
Woher wollen Sie das wissen?

«
«Der finanzielle Rahmen ist enger als in der Ära Petkovic»
Murat Yakin
»

Aus gut unterrichteten Quellen.
Aha. Nun, das kann sein. Petkovic ist elf Jahre älter und war länger Nationaltrainer, als ich es bin. Die viel grössere Motivation besteht für mich aber sowieso darin, mit der Nati sportlich erfolgreicher zu sein als meine Vorgänger, und nicht darin, mehr zu verdienen. Nun, der Lohn war nicht matchentscheidend. Ausserdem ist mir bewusst, dass wegen Corona und Projekten wie der EM der Frauen und dem Home of Football der finanzielle Rahmen etwas enger ist beim Verband als in der Ära Petkovic.

Xherdan Shaqiri ist zurückgetreten. Rechnen Sie mit weiteren Spielern, die der Nati Adieu sagen werden?
Shaqiris Rücktritt bedaure ich in allen Belangen, weil er ein aussergewöhnlicher Fussballer ist und ich ihn auch als Mensch ausserordentlich schätze. Stand heute rechne ich nicht damit, dass ein weiterer Spieler zurücktreten wird.

Also auch nicht Yann Sommer? Da stellt sich die Frage: Wer steht im nächsten Länderspiel im September im Tor?
Die Nummer 1. Wenn wir zu Hause spielen, dann ist es jener Spieler im gelben, auswärts jener im grünen Trikot.

Ist der Kampf um die Nummer 1 zwischen Yann Sommer und Gregor Kobel offen?
Das kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Ich werde nach deren Ferien erst mal mit jedem Einzelnen reden. Die Frage lautet nicht, wer in drei Tagen, sondern wer in zwei Jahren an der WM im Tor stehen wird.

Aber das ist die grosse Frage, die auf die Nati und Sie zukommen wird.
Einverstanden, die Frage ist berechtigt. Aber ich kann sie nicht beantworten, solange ich mit den Torhütern noch nicht gesprochen habe.

Gregor Kobel gilt als äusserst ehrgeizig. Wie haben Sie ihn während der EM erlebt?
Sehr professionell. Er hat in jedem Training Gas gegeben.

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